"Erdogan bedient Opferhaltung der Deutschtürken"
20. Mai 2014DW: Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan und seine Regierungspartei AKP bestreiten, dass es sich um einen Wahlkampfauftritt handelt und sprechen von einer "Geburtstagsfeier" zum zehnjährigen Bestehen der Union Europäisch-Türkischer Demokraten (UETD). Frau Akgün, welche Absichten verfolgt der türkische Premier denn aus Ihrer Sicht?
Lale Akgün: Meiner Meinung nach geht es Erdogan vor allem um eine schöne Wahlkampagne. Im August sind Präsidentschaftswahlen, und er wird sich meiner Meinung nach aufstellen lassen. Er möchte ein "executive president" werden, wie er sagt, also ein Präsident mit viel weitreichenderen Vollmachten. Und dafür braucht er die Stimmen der Türken in Deutschland beziehungsweise in ganz Europa.
Man rechnet damit, dass er in der Kölner Arena vor tausenden Anhängern sprechen wird. Die Bilder von früheren Veranstaltungen wirken so, als lägen ihm die Deutschtürken zu Füßen. Wie groß ist Erdogans Rückhalt bei seinen Landsleuten in Deutschland tatsächlich?
Diejenigen, die in der Arena sein werden, liegen ihm auch zu Füßen. Denn es ist keine offene Veranstaltung, sondern die Tickets sind an ausgewählte Leute verteilt worden. Sie werden auch in Bussen aus dem Süden und dem Norden Deutschlands, aus Belgien und den Niederlanden nach Köln gebracht, um ihm zuzujubeln. Das ist eine reine Jubelveranstaltung. Die Bilder werden live in die Türkei übertragen und sollen dort klar zeigen, dass Erdogan der große Führer aller Türken ist. Also eine Inszenierung.
Aber ich bin trotzdem davon überzeugt, dass die Mehrheit der Türken in Deutschland Erdogan gut findet und hinter ihm steht. Ich gehe davon aus, dass er hier bei den Wahlen auf 60 bis 70 Prozent kommt. Denn diejenigen, die hier leben, gehören zu seinen Stammwählern: orthodoxe Sunniten, die eher bildungsfern sind. Das ist seine Basis.
Können Sie es denn verstehen, wenn viele in Deutschland lebende Türken das Gefühl haben, dass Erdogan ihre Interessen besser vertritt als deutsche Politiker?
Ich kann es zwar rational nicht ganz nachvollziehen, aber mental durchaus. In den vergangenen 60 Jahren ist hier keine Politik gemacht worden, die auf das "Wir" zielt, sondern immer auf "Ihr" und "Wir". Und Erdogan hat gelernt, auf dieser Klaviatur zu spielen und dafür zu sorgen, dass diese Menschen das Gefühl haben: Wenn hier jemand unsere Interessen vertritt, dann ist es "unser" Ministerpräsident. Ich kann das gut verstehen, obwohl es natürlich de facto nicht stimmt: Diese Menschen leben seit Jahrzehnten hier, sie zahlen hier Steuern, ihre Kinder gehen hier zu Schule. Sie müssen, wenn sie arbeitslos werden, hier zum Arbeitsamt gehen und nicht in der Türkei.
Trotzdem haben sie das Gefühl, dass Erdogan ihr Beschützer ist, der ihnen in schlechten Zeiten ganz nah ist. Das hat auch damit zu tun, dass die Sozial- und Bildungspolitik in Deutschland für die Migranten zwar gut war, aber niemals eine Inklusionspolitik im Sinne von "ihr gehört zu uns" oder "ihr seid genauso Deutsche wie wir auch". Ich lebe jetzt seit 50 Jahren in Deutschland, und ich werde bis heute gefragt: "Was machen Ihre Landsleute?" Ich bin also immer noch "die andere". Und wenn sie eine solche Politik machen, müssen sie sich nicht wundern, wenn Menschen, die eher bildungsfern sind, sich eher von jemandem angesprochen fühlen, der sich als ihr Landsmann versteht.
Seitdem Erdogan an der Macht ist, scheint es aber auch eine ganz gezielte Strategie zu geben, die Türken in der "Diaspora" zu beeinflussen - unter anderem mithilfe der "Agentur für Auslandstürken". Wie groß ist denn der Einfluss der Regierung in Ankara auf Menschen mit türkischen Wurzeln?
Wie groß dieser Einfluss ist, hängt von jedem Einzelnen ab. Wenn sich jemand eher in deutschen Vereinen engagiert und eher deutsche Zeitungen liest, dann ist der Einfluss gering. Aber wenn jemand seine Freizeit in Moscheevereinen verbringt, türkisches Fernsehen schaut, türkische Zeitungen liest und eigentlich mental in der Türkei lebt, dann ist der Einfluss von Erdogan und seinen Leuten sehr groß. Denn die türkischen Medien sind alle fest in der Hand der Regierung, darüber herrschen sie.
Über die DITIB, die Türkisch Islamische Union, die unter der Aufsicht des Präsidiums für Religiöse Angelegenheiten in Ankara steht, brauchen wir erst gar nicht zu reden, das ist eine türkische staatliche Organisation. Auch alle Moscheevereine werden mehr oder weniger aus der Türkei gelenkt. Sie können sich also vorstellen, dass dann der Einfluss Erdogans sehr groß ist. Und das ist immer mit dieser Opferhaltung verbunden: Wir sind hier in Deutschland Opfer und müssen dafür sorgen, dass jemand da ist, der uns schützt.
Lale Akgün ist Buchautorin und Politikerin und saß von 2002 bis 2009 für die SPD im Bundestag. Geboren wurde sie Istanbul.
Das Gespräch führte Jeanette Seiffert.