Afroz Shahs Müllsammler am Strand von Mumbai
21. November 2017Indien hat 7000 Kilometer Küste, aber leider besteht die nicht nur aus unberührten Stränden und atemberaubenden Felsklippen. In Mumbai beispielsweise sieht die Küste eher aus wie eine Müllkippe. Abfall bedeckt die Strände: Bunte Plastiktüten, Flaschen und Essensverpackungen sind überall, oft verheddert in alten Netzen oder verrottenden Textilien.
Die meisten Leute sind entrüstet über die Situation. Sie sind wütend auf die Stadtverwaltung, weil sie die Strände nicht säubert, oder auf diejenigen, die ihren Müll auf die Straßen oder sogar direkt auf den Strand werfen. Ein Mann aber hat beschlossen, sich nicht zu beschweren, sondern selbst etwas zu tun.
Unter der Woche ist der 36-jährige Afroz Shah Jurist für Verfassungsfragen am Obersten Gerichtshof von Mumbai, aber am Wochenende säubert er den Strand. Alles begann vor zwei Jahren, als er eine Wohnung mit Blick auf den Versova-Strand in Mumbai bezog. Als Kind hat er in der Nachbarschaft gelebt, am schönen Strand gespielt und freute sich entsprechend darauf, wieder dorthin zu ziehen.
"Ich liebe den Ozean", sagt er. "In der Nähe des Wassers zu sein, beruhigt mich. Es macht mich glücklich."
Der Blick aus seinem Fenster war überhaupt nicht das, was er erwartet hatte. "In der Nähe der Mole stapelte sich der Müll eineinhalb Meter hoch", sagt Shah. Auch spazieren zu gehen machte keine Freude. "An meinem Strand liegt nicht nur Plastik, sondern auch organischer Abfall, weil ungereinigte Abwässer ins Meer geleitet werden. Er ist voller Dreck und organischem Abfall, und wenn sich das alles vermischt, versinkt es alles im Sand."
Sei du selbst die Veränderung, die du dir wünschst
Shah blieb unerschrocken. Er machte sich Gandhis Philosophie "Sei du selbst die Veränderung, die du dir wünschst" zu eigen und gründete, was er Shram Daan nennt. Das bedeutet: Du arbeitest freiwillig für dein Land. Sein 84-jähriger Nachbar machte mit.
Am ersten Morgen gingen die beiden mit Plastikmüllbeuteln und dünnen OP-Handschuhen runter zum Ufer, um den Müll einzusammeln. Die Leute starrten sie an. "Manche Leute lachten über uns, manche fragten 'Warum macht ihr das, was die Regierung tun sollte?`" erinnert sich Shah.
Andere schlugen vor, er solle sich bei der Verwaltung beschweren oder sie verklagen. Shah machte einfach weiter. An dem Tag füllten sie zwei große Müllsäcke mit Abfall vom Strand. Nach und nach kamen immer mehr Menschen dazu. Heute kommen jeden Samstag und Sonntag bis zu 300 Leute, um sauber zu machen. Ihre Unterstützung hat aus Shahs Herzensangelegenheit das größte Strandsäuberungsprojekt der Welt gemacht. Für sein Engagement für diese Herkulesaufgabe wurde er sogar zum UN Champions of the Earth gewählt.
Weltweiter Müll
"Mehr als 80 Prozent des Mülls im Wasser kommt vom Land", sagt Doug Woodring, Mitbegründer von Ocean Recovery Alliance. "Wenn wir den Ozean weiter mit unserem Müll füttern, wird er ihn weiterhin über Gezeiten und Wind zu uns zurückschicken."
Weltweit landen jedes Jahr mehr als acht Millionen Tonnen Plastik im Meer, meist in Form von Verpackungsmaterial, Flaschen und Zigarettenstummeln. "Die weltweite Plastikproduktion hat sich in den vergangenen 15 Jahren verdoppelt, auf mehr als 300 Millionen Tonnen pro Jahr”, sagt Gerhard J. Herndl, Professor und Inhaber der Lehrstuhls für Meeresbiologie an der Universität Wien. "Ein großer Teil dieses Plastiks wird nicht recycelt, sondern in der Natur entsorgt."
Der NGO "ecowatch" zufolge landet pro Minute etwa eine Lastwagenladung voll Plastik im Meer.
"Das Problem mit Plastik ist, dass es nicht verschwindet. Und jedes Tier, ob an Land, im Meer oder in der Luft, wird es fressen, wenn es in sein Maul passt und wenn es nach Nahrung oder Algen riecht", sagt Woodring. "Das bedeutet nicht, dass die Tiere alle sterben, aber es bedeutet, dass Giftstoffe leicht in unsere Nahrungskette gelangen können, insbesondere wenn die kleinsten Tiere und die Filtrierer es auch fressen."
Hausgemachtes Problem (teilweise)
Während ein Großteil des Mülls an Mumbais Stränden aus dem Meer stammt, wird auch jede Menge von den Einwohnern der Stadt selbst generiert. Daher ist Shahs zweites Ziel, mehr Bewusstsein für Einwegplastik zu schaffen, indem er die Öffentlichkeit einbezieht.
"Strände vom Plastikmüll zu befreien, ist sicher ein erster Schritt, um die Strände als Orte der Erholung wieder attraktiver zu machen. Aber wichtiger ist, dass es ein Bewusstsein dafür schafft, Plastik nicht einfach in die Natur zu werfen", sagt Herndl.
Am Versova-Strand arbeiten jetzt Kinder und Erwachsene, Arme und Reiche Seite an Seite. Sie sammeln weggeworfenes Plastik ein und sehen dabei mit eigenen Augen, welche Auswirkungen die Abfallentsorgung hat.
Shah und die Freiwilligen haben bereits mehr als 7000 Tonnen Müll eingesammelt, und inzwischen schickt die Stadt Bagger zum Graben und Traktoren, um das Plastik zur örtlichen Mülltrennungsanlage zu bringen.
"Jedes Wochenende säubern wir, und jedes Wochenende ist der Strand wieder dreckig. Aber das entmutigt uns nicht", sagt Nilofer Kazi, die sich vor eineinhalb Jahren den Freiwilligen angeschlossen hat. "Vorher gab es viele Schichten aus Müll, und wir können sehen, dass wir etwas erreichen." Zu Hause hat sie jetzt begonnen, den Müll zu sortieren und nassen und trockenen Müll zu trennen. Sie versucht auch, ihre Nachbarn dazu zu bewegen, kein Einwegplastik mehr zu verwenden.
Zwischen seinen Gerichtsterminen hält Shah Workshops an Unis und Schulen. NGOs laden ihn ein, bei ihnen über die Auswirkungen von Plastik und Müll zu sprechen.
"Deshalb finde ich es toll, wenn kleine Kinder zu mir kommen und sagen: 'Heute gab es zu viel Plastik, das ist nicht gut, oder?' Dann habe ich das Gefühl, meine Arbeit ist getan", sagt Shah. "Sie haben verstanden, dass es ein Problem gibt. Sie werden lernen, damit umzugehen."