Afrikas neue Lust auf Geschichte
26. Februar 2020In der lässig mit Paletten und Sitzecken improvisierten Konferenzhalle fällt Christopher Ogbogbe ziemlich aus dem Rahmen. Mit 56 Jahren ist er fast dreimal so alt wie der durchschnittliche Besucher der Social Media Week in Lagos. Um ihn herum posen überall Digital Natives - getreu dem Motto "Ich da, ich hier, Selfies everywhere". Von links brandet plötzlich Beifall auf, weil eine junge Frau im mobilen Radiostudio nebenan eine tolle Cover-Version eingesungen hat. Eine stille Laptop-Gruppe hat das am Bildschirm verfolgt und hebt nun kurz den Kopf. Von rechts stapft ein roter Engel mit traurigem Gesicht vorbei und wirbt für irgendwas.
Spontane Menschenknäuel bilden sich, wo immer ein Influencer wie Segun Awosanya aufkreuzt. Allein auf Twitter hat er fast 360.000 Follower, viele könnten seine Kinder sein. Awosanyas Einfluss ist so groß, dass Polizei und Behörden Presseinfos direkt an ihn schicken. Sein Label Segalink ist zum Markenzeichen für user-generierte Informationen geworden. Awosanya ist ein Guru der für Nigeria so typischen digitalen Halbwelt aus Unterhaltung, Spaß und ernsthafter Gegenöffentlichkeit.
Geschichtslose Nigerianer?
Als er sich am DW-Stand über das Geschichtsprojekt "African Roots" erkundigt, hat er ein Dutzend Jünger im Gefolge. Die Grafiker des DW-Partners Comic Republic zeichnen live am Stand die Helden aus der neuesten Roots-Staffel. Das finden selbst die Jüngsten ziemlich hip. Christopher Ogbogbo beobachtet das Treiben mit amüsierter Gelassenheit. Er kennt die Jugend gut. "Ich schätze mal, dass 90 Prozent dieser jungen Leute keinen Geschichtsunterricht in der Schule hatten".
Ogbogbe muss es wissen. Er ist Geschichtsprofessor an der Universität Ibadan und kämpfte jahrzehntelang dafür, dass das Fach Geschichte in den Grundschule wieder eingeführt wurde. "Erst lernten wir in der Schule nur europäische Geschichte, dann gab es über 30 Jahre lang gar keinen Geschichtsunterricht in Nigeria mehr", klagt Ogbogbe.
Auch deshalb ist der Präsident der Historischen Gesellschaft Nigerias ein Fan der 2018 gestarteten DW-Serie "African Roots". In Radioporträts und Animationen im Comicstil wird afrikanische Geschichte erzählt. Ogbogbo ist wissenschaftlicher Beirat von "African Roots". Er hat die 25 Heldinnen und Helden der neuen Staffel mit ausgewählt und wacht über die historische Genauigkeit der Folgen. "Man kann der jungen Generation heute Geschichte nicht mehr nur mit Büchern vermitteln", räumt er auf dem DW-Panel "My History – my African Roots" öffentlich ein. "Man muss die Eingangstür zur Welt unserer Kinder finden und ihr Interesse wecken, sie zur Recherche ermutigen", sagt er.
Großes Medieninteresse für DW-Projekt
Genau das versucht die DW-Serie, deren zweite Staffel nun in Lagos offiziell gestartet wurde: In Englisch, Haussa, Französisch, Amharisch, Kisuaheli und Portugiesisch werden weitere 25 teils sagenumwobene Frauen und Männer der afrikanischen Geschichte vorgestellt - vom angolanischen König Afonso I. bis zur nigerianischen Herrscherin Amina Sukjhera, von der Dahomey-Amazone Seh-Dong bis zur südafrikanischen Widerstandskämpferin Helen Joseph.
Afrikanische Autoren, afrikanische Zeichner, ein afrikanischer Beirat, afrikanische Sprachen – das Konzept stößt in Lagos auf immenses Interesse: 12 Radio- und TV-Sender berichten vom Launch. Den Teilnehmern gefällt die grafische Umsetzung durch den nigerianischen Kooperationspartner Comic Republic. "Als ich mit der Arbeit für 'African Roots' begann, erlebte ich so eine Art Schockphase", erinnert sich Produzent Jide Martin. "Mir wurde schlagartig klar, wie spärlich unsere afrikanische Geschichte dokumentiert ist. Wir haben nicht die gleichen Ressourcen dafür wie andere. Mir dämmerte: Wenn wir das aber nicht tun, können wir auch nicht aus unseren Fehlern lernen".
Das DW-Projekt wird von der Gerda Henkel Stiftung gefördert, die sich davon wohl auch einen Schub für den künftigen akademischen Nachwuchs erhofft. "Die Stiftung unterstützt den Kerngedanken des Projekts, einem jungen Publikum mit afrikanischen Stimmen die Geschichte Afrikas zu vermitteln", so Stiftungsvorstand Michael Hanssler.
Comics als Eingangstor?
Die tansanische Jungunternehmerin und selbsternannte "Afro-Feministin" Carol Ndosi ist ein Fan der Serie. Wegen ihrer engagierten politischen Haltung und 260.000 Twitter-Followern zählt Ndosi zu den einflussreichsten Social-Media-Akteuren Ostafrikas. Sie hat unter jungen Afrikanern schon lange einen ungestillten "kulturellen Hunger" bemerkt. "Deshalb liebe ich African Roots und die Comics von Jide Martin. Als ich sie zum ersten Mal sah, hat's mich umgehauen. Ich spüre, dass das ankommt – und das sich auch unser pädagogisches Herangehen ändert: Wir sollten mehr spielerisch lernen. Jugendliche, Kinder spricht der Comic-Stil an. Das könnte das Eingangstor sein", sagt sie.
Die Serie hat offenbar den Nagel auf den Kopf getroffen. Die eigentlich als Webvideos angelegten Animationen sind so beliebt, dass nigerianische Fernsehsender wie NTA und Plus TV sie auch im regulären Fernsehprogramm landesweit ausstrahlen. Der Historiker Ogbogbo fühlt sich auch dadurch ermutigt. Immerhin hat sich sein hartnäckiger Einsatz für mehr Geschichtsbewusstsein inzwischen ausgezahlt. Im jüngsten Lehrplan Nigerias findet sich erstmals das Schulfach Landesgeschichte wieder.