Afrikas Epochenjahr 1960
18. Mai 2010Kwassivi Francis Amegan ist zwischen den Bücherstapeln und den staubigen Akten kaum noch zu sehen. Amegan ist Germanist und Historiker, eigentlich schon längst Pensionär, doch im Nationalarchiv von Lomé forscht er unermüdlich weiter - über die Taten und Untaten der deutschen und französischen Kolonialherren in Togo. Wenn er an den 27. April 1960 denkt, bekommt er heute noch feuchte Augen. Er war noch Schüler damals, und er durfte hoffen. Darauf, dass nun endlich die Franzosen gehen und die Freiheit nach Togo kommt.
Hohe Erwartungen
"Ich war dabei, als der erste Präsident Sylvanus Olympio seine erste Rede gehalten hat, und wo er sagte – eigentlich ein Zitat aus der Bibel – 'Die Nacht ist lang, aber der Tag kommt'", erinnert sich Amegan. Auch Mousbila Sankara erinnert sich noch genau. An die Erwartungen, die Vorfreude auf der Avenue de l'Indépendance von Ouagadougou. Mousbila ist 16 Jahre alt, als Togos Nachbarstaat Obervolta unabhängig wird, das spätere Burkina Faso - am 5. August 1960. "Wir wurden in die Nationalfarben gekleidet, in denen sollten wir dann defilieren. Wir waren stolz, stolz auf unseren Präsidenten. Er war sehr eloquent und ambitioniert. Er hatte viel vor, sprach von Freiheit und Entwicklung – auch von Würde. 'Endlich frei', das war das Motto, endlich frei!"
Teuer erkaufte Freiheit
Zeitzeugen aus 15 anderen Ländern Afrikas dürften in ähnlichen Erinnerungen an das Jahr 1960 schwelgen. Freiheit, Erleichterung, Hoffnung, vom Senegal bis in den Tschad, vom Kongo bis nach Madagaskar – überall hebt sich der Schleier vor allem des französischen Kolonialregimes. 1960 - ein Epochenjahr. Doch es hat eine lange Vorgeschichte, die die Unabhängigkeits-Euphorie bremst. Denn die Freiheit, sie ist teuer erkauft, und sie entspringt einem pragmatischen Kalkül, das zurückreicht in die Zeit des Zweiten Weltkriegs: Frankreich ist zum Teil von den Deutschen besetzt; General Charles De Gaulle gelingt es von London aus, die französischen Kolonien in Afrika davon zu überzeugen, sich vom Vichy-Regime zu distanzieren. Von dem Teil Frankreichs also, der unter Maréchal Pétain mit Hitler-Deutschland kollaboriert. Für die strategische Unterstützung gegen Deutschland will sich Frankreichs künftiger Politik-Star erkenntlich zeigen. 1944 reist De Gaulle nach Brazzaville, in die Hauptstadt der heutigen Republik Kongo – und berät mit 20 Gouverneuren über die Zukunft des Kolonialreiches.
Die Illusion vom harmonischen Übergang
Den Kolonien stellt De Gaulle mehr Mitsprache in Aussicht, die völlige Souveränität schließt er aber aus. Zwar bekommen sie nach 1945 sogar Sitz und Stimme in der Pariser Nationalversammlung, aber von Unabhängigkeit noch keine Spur: Den Aufstand in Madagaskar schlägt Frankreichs Kolonialarmee blutig nieder; Algerien entwickelt sich zu einem Pulverfass. Innenminister Francois Mitterrand gießt Öl ins Feuer, als er 1954 sagt: "Algerien ist Frankreich. Von Flandern bis zum Kongo gibt es nur ein Gesetz, eine Nation, nur ein Parlament. Die einzige Verhandlung ist der Krieg." Spätestens seit dem offenen Kriegsausbruch in Algerien erweist sich der friedliche und harmonische Übergang der Kolonien in die echte Freiheit als Illusion, auch wenn Charles De Gaulle 1959 mit der so genannten "Communauté" die staatliche Unabhängigkeit der Kolonien besiegelt. "Die afrikanischen Länder, die wir als ein gemeinsames, brüderliches Ganzes begreifen, sind unauflöslich geprägt von Frankreich und seiner Kultur. Mitten in den Stürmen dieser Welt macht uns die Communauté stark, die Vernunft, die Brüderlichkeit."
Wachsender Widerstand
Doch in vielen Gebieten wächst der Widerstand gegen Frankreich, so wie in Guinea; und in anderen Ländern arrangieren sich Opportunisten mit der Grande Nation – so wie Léopold Sédar Senghor im Senegal, Félix Houphouet-Boigny in der Elfenbeinküste, oder Léon M'Ba und vor allem sein Nachfolger Omar Bongo im ölreichen Gabun. Die Eliten also, die eng mit Frankreich zusammenarbeiten. Fatal auch deswegen, weil die jungen Staaten mit schweren Geburtsfehlern unabhängig werden. Weil sich die Wirtschaft nicht emanzipiert. Weil die ethnische Zugehörigkeit immer stärker bleibt als das Nationalgefühl. Weil sich keine echten demokratischen Strukturen entwickeln. Weil Kleptokraten sich bereichern, die der Kolonialmacht ins Konzept passen. Deswegen spricht der französische Wirtschaftswissenschaftler Francois-Xavier Verschave nicht nur von "Francafrique", sondern auch von "Mafiafrique".
Nach der Unabhängigkeit haben die Afrikaner ihren Führern vertraut . Doch ihre Führer haben dieses Vertrauen nicht gerechtfertigt. Sie sind fast ohne Ausnahme reich geworden, ihre Länder sind arm. Viele Staaten, die 1960 ihre Freiheit gefeiert haben, sind heute die Schlusslichter des Kontinents. Die Fäden werden immer noch anderswo gezogen – in Paris, in London. Deswegen schreibt Kenias Friedensnobelpreisträgerin Wangari Maathai, 1960 sei aus dem Kolonialproblem ein Führungsproblem geworden. Deswegen brauche Afrika nun eine Führungsrevolution. Zeit, um nach 50 Jahren über ein neues Epochenjahr nachzudenken.
Autor: Alexander Göbel
Redaktion: Katrin Ogunsade