Afrikanische Todesbriefe an die Kinder
30. September 2004Die Memory-Books sind eine Art Familiengedächtnis für zukünftige Aidswaisen. Worte, Bilder oder aufgeklebte Blumen sollen den Kindern später erzählen, woher sie kommen und wer ihre Eltern waren. "Deine Geburt", "Wer du bist", "Was Du magst", "Meine Hoffnungen für Dich", so heißen einige der Überschriften, oft in einer einfachen, klaren Sprache. Mit den Erinnerungsbüchern brechen die Sterbenden das Schweigen, das diese Krankheit umgibt und warnen eindringlich vor der HIV-Gefahr.
Gedankenlosigkeit im Westen
In Afrika entstehen erschreckend viele dieser Bücher. Im Jahr 2003 sind 2,2 Millionen Menschen an den Folgen der HIV-Infektion gestorben. 13 Millionen Kinder in Afrika haben ihre Eltern durch Aids verloren. Übrig bleiben die ganz Alten und die ganz Jungen. Meist müssen die ältesten Geschwister die Rolle des Familienoberhauptes übernehmen. Beatrice Muwa, eine Gesundheitsberaterin in Uganda, hat die Initiative für das Memory Book-Projekt ergriffen. Der schwedische Krimi-Autor Henning Mankell dokumentiert diese neue Kultur des Überlieferns in seinem Buch "Ich sterbe, aber die Erinnerung lebt", das er jetzt auf dem Internationalen Literaturfestival in Berlin vorgestellt hat.
Stille Tragödie
Mehrere Wochen war Mankell in Uganda unterwegs, um mit Aidskranken zu sprechen. Für den schwedischen Schriftsteller zeigt sich in den Erinnerungsbüchern vor allem ein "unglaubliches Maß an Würde". Denn viele Kranke wollten ihren Kindern als Vorbild in Erinnerung bleiben: "In allen Büchern findet sich der unbedingte Wunsch zu leben. Für den Leser entsteht das Gefühl 'Es tut mir leid, mein Kind, dass ich gehen muss. Ich hätte gern weiter gelebt, aber ich kann es nicht. Bitte vergiss mich nicht.'"
Gedächtnisverlust stoppen
Die Krankheit verändere Gesellschaften radikal, sagt Peter Piot von UNAIDS, dem Aids-Programm der Vereinten Nationen. Gerade die gesellschaftstragenden mittleren Altersgruppen - und damit auch ihr Wissen - seien in vielen Regionen Afrikas inzwischen fast ausgelöscht: "Das Weitergeben von Identität und Kultur muss neu organisiert werden. Zum Beispiel, wie man Landwirtschaft betreibt. Das sind Dinge, die man nicht in der Schule lernt. Das heißt, auch die Lehrpläne müssen sich ändern."
In Europa und den USA machen Medikamente Infizierten das Leben mit Aids erträglicher. Für Millionen Betroffene in Afrika gilt das nicht, weil sie die Arzneimittel meist nicht bezahlen können. Mankell, der abwechselnd in Mosambik und Schweden lebt, sieht darin eine von Menschen gemachte Katastrophe. Pharma-Unternehmen seien mitschuldig daran, dass die Krankheit in Afrika einem Todesurteil entspricht: "Vielleicht sind diese kleinen, schmalen Bücher die wichtigsten Zeugnisse, die Archäologen einmal finden werden. Denn sie berichten über eine der größten Epidemien, die unsere Zeit geprägt hat. Und sie werden auch darüber berichten, was wir dagegen getan haben und was nicht."