Afghanistans Frauen unter Druck
16. Oktober 2021Fast 100 "Mitglieder der Fußballfamilie" Afghanistans, "darunter auch Spielerinnen", hat der Weltfußballverband FIFA laut einer Mitteilung auf seiner Webseite von Freitag "nach komplexen Verhandlungen" nach Katar ausfliegen lassen können. Man habe davon ausgehen müssen, dass die Mitglieder dieser Gruppe in ihrer Heimat "dem höchsten Risiko" ausgesetzt gewesen seien, so die FIFA-Mitteilung. Auch Mitglieder der Junioren-Nationalmannschaft der Frauen sind ausgereist, sie befinden sich mittlerweile in Portugal. Radsportlerinnen haben das Land ebenfalls verlassen, unterstützt vom Rad-Weltverband UCI.
Die Flucht der Sportlerinnen wirft ein Schlaglicht auf die düstere Zukunft, was ein selbstbestimmtes Leben für Frauen, nicht nur Sportlerinnen, in Afghanistan betrifft. Ellinor Zeino hat bis zur Machtübernahme der Taliban im August das Büro der Konrad-Adenauer-Stiftung in Afghanistan geleitet: "Die Frauen, mit denen wir gearbeitet haben, also Frauen aus der Mittelschicht, in aller Regel ohne doppelte Staatsbürgerschaft, sind verunsichert", sagt Zeino. "Sie haben kaum eine Chance, das Land zu verlassen. Einige berichten von Hausdurchsuchungen und Befragungen."
Ausschluss von Frauen fördert Armut
Davon, dass die Situation der Frauen sich verschlechtern wird, geht auch Nadia Nashir-Karim aus, Vorsitzende des Afghanischen Frauenvereins in Hamburg. Der Verein betreibt insgesamt 15 Projekte in Afghanistan: Schulen, Kliniken, Wohnprojekte, Handwerksstätten. Von diesen 15 seien derzeit zwölf noch in Betrieb, so Nashir-Karim. Als Lehrerinnen an Grundschulen und als Ärztinnen oder Hebammen in Krankenhäusern könnten Frauen noch arbeiten, in einigen Ministerien allerdings nicht mehr. "Die Situation trägt in Tausenden von Familien erheblich zur Verarmung bei. Generell hat die Armut, auch die extreme Armut, zugenommen. Es gibt zwar Lebensmittel, doch viele Menschen können sie sich nicht mehr leisten, weil sie ihre Arbeit verloren haben. Sie haben keine Einnahmequellen und verkaufen darum ihren Hausrat."
Hinzu kommt, dass den Frauen der Zugang zu höherer Schulbildung und Studium erschwert wird. Diejenigen, die in den Großstädten noch an die Universitäten gehen, lernen dort getrennt von ihren männlichen Kommilitonen. Allerdings gelte dies nur für die privaten Universitäten, sagt Nadia Nashir-Karim, die staatlichen seien derzeit geschlossen.
Flucht in die Großstädte
Von krasseren Formen der Unterdrückung berichtete die in Paris lebende afghanische Künstlerin Kubra Khademi vergangene Woche in einem Interview mit der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung": Junge unverheiratete Frauen würden ohne ihr Einverständnis von den Taliban an junge Pakistaner zur Heirat übergeben. Die männlichen Nachkommen aus diesen Ehen würden dann im Geiste der Ideologie der Bewegung erzogen, um auch auf diese Weise den Nachwuchs zu sichern.
Nadia Nashir-Karim bezweifelt nicht, dass diese Nachrichten zutreffen. "Sie sind allerdings weit weg von dem, was wir aus den großen Städten berichten können." Diese, allen voran Kabul, dienten immer mehr Afghaninnen und Afghanen als Zufluchtsort. "Wir betreuen derzeit über tausend Familien, die aus unterschiedlichen Provinzen nach Kabul geflohen sind. Viele von ihnen haben über zwei Monate in teils sehr widrigen Umständen in Zelten übernachtet. Wir haben ihnen Geld für den Transport gegeben und sie dann finanziell unterstützt, damit sie Häuser bauen und Lebensmittel kaufen können."
Allerdings erleben viele Frauen auch in den Großstädten ihr Leben seit der Machtübernahme der Taliban als Albtraum, heißt es in einem aktuellen Bericht der Organisation "Human Rights Watch": "Aus Angst vor den Taliban und den von diesen auferlegten Einschränkungen der Bewegungsfreiheit von Frauen sind sie weitgehend in ihren Häusern gefangen und sehen zu, wie Arbeit, Studium und Träume, denen sie ihr Leben gewidmet hatten, vielleicht für immer verschwinden."
Frauen pochen auf ihre Rechte
Trotz allem gebe es weiterhin Frauen, die weitermachten, um ihre Familien zu ernähren, sagt Nadia Nashir-Karim. "Auch im Umfeld unserer Projekte arbeiten Frauen, die nicht aufgeben und konzentriert ihr Ziel verfolgen. Diese Frauen gehen auf die Straße und kämpfen für ihre Rechte und damit für die aller Frauen in Afghanistan. Sie wenden sich gegen eingeschränkte Bildungsmöglichkeiten, aber auch, und das scheint mir und vielen anderen Frauen ganz besonders wichtig, gegen Zwangsverheiratung."
Dennoch sind die afghanischen Frauen auf Hilfe von außen angewiesen. Dafür müsse man die Taliban auf ihre eigenen Worte und Erklärungen festlegen, sagt Ellinor Zeino von der Konrad-Adenauer-Stiftung. Bei den Verhandlungen mit den Amerikanern hätten die Taliban immer wieder erklärt, sie seien nicht grundsätzlich gegen die Bildung von Frauen und Mädchen. Diese sei möglich, wenn die Geschlechtertrennung eingehalten und die Bildungsinhalte islamisiert würden.
"Das sind Vorstellungen, die sich in etwa mit denen der konservativen arabischen Golfmonarchien vor zehn Jahren vergleichen lassen. Das muss man nun festmachen. Und das ist der Verhandlungsspielraum, den wir haben. Zugleich ist es der Mindeststandard, den wir verwirklicht sehen wollen."
Verhandlungsgeschick gefragt
Um diese Anliegen zu unterstützen, hätten die westlichen Staaten durchaus einige Druckmittel zur Hand, sagt Ellinor Zeino. "Insgesamt haben sich die Möglichkeiten des Westens verringert, da er nicht mehr vor Ort präsent ist. Auch die militärische Karte gibt es nicht mehr. Was bleibt - und das sind unsere größten Hebel - sind Geld und internationale Anerkennung. Auf dieser Grundlage lässt sich verhandeln." Allerdings dürfe man nicht zu stark auf Konfrontation gehen, so Zeino. Denn dann könnte die Taliban-Führung sich abwenden und anderen Gebern zuwenden, etwa China, das den Taliban womöglich keine oder ganz andere Bedingungen stelle. "Umso mehr kommt es nun auf Verhandlungen an und auf das Geschick, mit denen man sie führt."