Afghanistan vor dem Zusammenbruch?
27. November 2018"Die Bevölkerung ist in einem der schwierigsten Momente überhaupt, aber in den vergangenen 24 Monaten hat es an vielen Fronten wichtige Fortschritte gegeben", sagte der stellvertretende Chef der UN-Mission in Afghanistan (UNAMA), Toby Lanzer, zum Auftakt der Afghanistan-Konferenz in Genf.
Gleichzeitig räumte er ein, dass von den rund 35 Millionen Einwohnern 3,6 Millionen von Hunger bedroht seien. Eine halbe Million sei wegen Konflikten und der Dürre vertrieben worden. Die Regierung habe seit der Geberkonferenz in Brüssel 2016 aber viel erreicht: Sie habe in die Basisversorgung der Bevölkerung investiert, den Kampf gegen Korruption verschärft, den Sicherheitssektor reformiert. "Bei den Reformvorhaben ist der Fortschritt schneller und besser als erwartet", sagte Lanzer.
2016 hatte die internationale Gemeinschaft dem Land 13,4 Milliarden Euro bis 2020 zum Aufbau des Staats zugesagt. Die afghanische Regierung habe schnellere und bessere Reformerfolge vorgelegt als erwartet, lobte der humanitäre Koordinator der UN in Afghanistan, Lanzer. Das gleiche gelte für die Reform der Sicherheitskräfte. Trotzdem gebe es weiterhin große Herausforderungen, sagte er. So gebe es in Afghanistan mehr zivile Opfer durch Gewalt zu beklagen als im Bürgerkrieg im Jemen. Auch wegen einer schweren Dürre müssten 3,6 Millionen Menschen in Afghanistan teils mehrere Tage ohne eine Mahlzeit auskommen.
Lanzer erklärte, auf der Konferenz werde auch über Initiativen für einen Frieden in Afghanistan gesprochen. Für die Vereinten Nationen stehe im Mittelpunkt, dass jede Friedenslösung vom afghanischen Volk getragen werde, betonte Lanzer. Zu der Konferenz wird am Mittwoch unter anderen der russische Außenminister Sergej Lawrow erwartet. Der US-Sonderbeauftragte für Afghanistan, Zalmay Khalilzad, sagte seine Teilnahme dagegen ab.
Zivilgesellschaft skeptisch
Die Zivilgesellschaft zeichnet jedoch ein anderes Bild: Durch die Präsenz der radikalislamischen Taliban und der Terrororganisation "Islamischer Staat" (IS) habe sich die Lage in den vergangenen zwei Jahren deutlich verschlechtert, meinte Jawad Nader, der britische und irische Unterstützergruppen für Afghanistan koordiniert. "Afghanistan steht vor dem Zusammenbruch", sagte er.
Suraya Pakzad von der Organisation "Stimme der Frauen" stellte erschütternde Berichte von Familien vor, die gezwungen waren ihre Töchter zu verkaufen. Wegen der Dürre sollen innerhalb von vier Monaten mehr als 70 Mädchen, teils im Alter von fünf Jahren, an ältere Männer verkauft worden sein, damit ihre Familien über die Runden kommen.
300.000 Kriegsvertriebene seit Jahresbeginn
In Afghanistan sind seit Jahresbeginn mehr als 301.000 Menschen innerhalb des Landes vor Kämpfen und Gefechten aus ihren Dörfern und Städten geflohen. Das geht aus einem am Dienstag veröffentlichten Bericht der UN-Agentur zur Koordinierung humanitärer Hilfe (OCHA) hervor. Demnach sind allein in der vergangenen Woche mehr als 19.500 Menschen heimatlos geworden - vor allem wegen Gefechten in der zentralen Provinz Gasni.
Im gesamten vergangenen Jahr hatten die UN rund 450.000 Kriegsbinnenflüchtlinge registriert. Ob alle im Vorjahr als vertriebenen registrierten Menschen weiter ohne Heimat sind, ist nach Angaben der UN unter anderem wegen des mangelnden Zugangs zu vielen umkämpften Provinzen schwer festzustellen.
Neben den Flüchtlingen, die innerhalb des Landes vor Kämpfen flohen, sind mehr als 200.000 Afghanen aufgrund der schweren Dürre in Westafghanistan als Binnenflüchtlinge registriert.
2018: Zwölf US-Soldaten getötet
Bei einer Explosion in Afghanistan sind in Kabul drei US-Soldaten getötet worden. Weitere drei seien verwundet worden, als ein Sprengsatz detonierte, teilte die NATO-Mission "Resolute Support" mit. Der Vorfall habe sich in der Nähe der südöstlichen Provinzhauptstadt Ghasni ereignet.
Ein amerikanischer Zivilangestellter des Militärs sei ebenfalls verwundet worden. Er und die verletzten Soldaten seien in Sicherheit gebracht worden und würden nun medizinisch versorgt. Seit Jahresbeginn wurden damit insgesamt zwölf US-Soldaten im Einsatz in Afghanistan getötet.
Die Taliban hatten weite Teile Afghanistans von 1996 bis zum Einmarsch der US-Truppen 2001 unter ihrer Kontrolle. Angesichts ihres Wiedererstarkens hatte US-Präsident Donald Trump vor etwas mehr als einem Jahr den Einsatz von mehr Truppen und mehr Luftangriffe beschlossen. Das härtere Vorgehen brachte allerdings keine Wende. Vielmehr erhöhten auch die Taliban den militärischen Druck. Derzeit laufen Bemühungen, den Krieg über Verhandlungen zu beenden. Dabei gab es kürzlich auch ein Treffen von US-Vertretern mit Taliban.
ni/se (dpa, epd, rtr)