Iran: Massenabschiebungen von Afghanen wie in Pakistan?
13. November 2023Während die Übergangsregierung in Pakistan bereits angekündigt hat, 1,7 Millionen der nach offiziellen Angaben bis zu 4,4 Millionen Afghanen im Land abzuschieben, gibt es bisher noch keine derartigen offiziellen Ankündigungen des Iran, wo noch mehr Afghanen leben - laut offiziellen Schätzungen rund fünf Millionen. Roxana Shapour vom Afghanistan Analysts Network beobachtet dennoch eine Veränderung: „Üblicherweise führt der Iran freiwillige Rückführungen in Absprache mit der IOM durch", sagt sie im Gespräch mit der DW. Sie erhalte jedoch in jüngerer Vergangenheit deutlich mehr Berichte über Abschiebungen, die gegen den Willen der Betroffenen und ohne Rücksprache mit der UN-Organisation für Migration durchgeführt wurden.
Nach Angaben der Grenzbehörden der Taliban hat sich die Anzahl der Migranten, die täglich aus dem Iran nach Afghanistan zurückkehren, im Vergleich zum Vormonat tatsächlich verdoppelt und liegt nun bei etwa 3.400 bis 4.500 Personen pro Tag.
Hochrangige Gespräche mit Afghanistan zur Migration
Vor diesem Hintergrund besuchte vorletzte Woche eine Delegation der Taliban den Iran - die bislang ranghöchste seit deren Machtübernahme in Afghanistan. Abdul Ghani Baradar, Taliban-Mitgründer und stellvertretender Wirtschaftsminister des Regimes, vereinbarte dabei mit dem iranischen Außenminister Hossein Amir- Abdollahian neben der Ausweitung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit auch die Einrichtung einer gemeinsamen Arbeitsgruppe, die geordnete Rückführungen von Afghanen sicherstellen soll. Die DW hat Abdul Rahman Raschid, Minister der Taliban-Regierung für Flüchtlings- und Rückkehrangelegenheiten, zu dieser Frage kontaktiert, ein vereinbartes Gespräch kam jedoch bis Redaktionsschluss nicht zustande.
Der Iran und Pakistan sind die beiden Länder in der Region mit der höchsten Anzahl von afghanischen Geflüchteten. Der iranische Außenminister Abdollahian behauptet, dass etwa eine Million Afghanen allein in den Monaten nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan in den Iran eingereist seien. Woher die Behörden diese Informationen haben, ist nicht bekannt.
Die meisten Flüchtlinge überqueren die Grenze illegal und werden nicht registriert. Die 950 Kilometer lange Grenze mit Afghanistan verläuft über hohe Berge und unwegsames Gelände; der Iran kann sie schwer sichern. Offiziell gibt es nur drei Grenzübergänge, über die derzeit afghanische Flüchtlinge vom Iran nach Afghanistan abgeschoben werden.
Kontroverse im Iran
Obwohl Teheran die Taliban-Regierung bis heute nicht offiziell anerkennt, duldet es die Nutzung der afghanischen Botschaft durch Taliban-Vertreter und hält seine Botschaft und Konsulate im Nachbarland offen. Auch innenpolitisch findet die Debatte im Iran durchaus kontrovers statt. Die dem Regime nahestehende Zeitung „Jomhuri-ye Eslami" warnt in zahlreichen Artikeln vor wachsenden Bedrohungen, wenn die Anzahl afghanischer Migranten im Iran steige, während die offizielle Nachrichtenagentur „Mehr News" in einem ausführlichen Artikel die positive Rolle der Afghanen in der iranischen Wirtschaft hervorhebt.
Katja Mielke, Senior Researcher beim Bonn International Centre for Conflict Studies (BICC), verweist auf die lange Geschichte dieser Verbindung mit dem Nachbarland. Arbeitsmigration aus Afghanistan in den Iran gebe es schon seit 100 Jahren, allerdings erfolge diese in der Regel unreguliert. Ali Fekri, der Generaldirektor der Organisation für Kapitalanlage und wirtschaftliche und technische Hilfe des Iran, betont in dem Beitrag für Mehr News einen weiteren Aspekt: Ihm zufolge wurden im ersten Halbjahr 2023 die meisten ausländischen Investitionen im Iran durch afghanische Staatsbürger getätigt. Ein wichtiger Aspekt für die von westlichen Sanktionen und Inflation stark in Mitleidenschaft gezogene Wirtschaft des Landes.
Kommt Massenabschiebung von afghanischen Geflüchteten?
Ob der Iran massenhafte Abschiebungen nach dem Vorbild Pakistans ernsthaft in Erwägung zieht, lässt sich anhand der vorliegenden Fakten nicht abschließend bewerten. Katja Mielke fürchtet, dass schon die zu erwartenden Abschiebungen aus Pakistan zu einer drastischen Verschlimmerung der humanitären Lage in Afghanistan führen werden. „Wir haben Probleme mit Arbeitsbeschaffung, die Menschen haben nicht genug Einkünfte, sie können sich nicht richtig ernähren. Es mangelt an allen Ecken und Enden," so die Forscherin. Diese Lage werde bereits durch die Abschiebungen aus Pakistan drastisch verschärft.
Aus ihrer Sicht versucht die Taliban-Regierung, eine zusätzliche Verschlimmerung durch weitere Ausweisungen aus dem Iran zu vermeiden. Shapour sieht dabei durchaus Grund zur Hoffnung. Zum einen gebe es eine durchaus relevante Anzahl von afghanischen Geschäftsleuten, die offiziell und mit gültigem Aufenthaltstitel im Iran wohnen. Zum anderen seien in vielen Branchen – dabei besonders im Baugewerbe – der Großteil der Arbeiter Afghanen. Nicht zuletzt verweist die Expertin auf das Handelsvolumen zwischen den Ländern und zieht den Schluss: „Es ist schwer vorstellbar, dass der Iran Maßnahmen ergreifen würde, die sich negativ auf die Wirtschaftsbereiche auswirken, […] besonders angesichts der aktuellen wirtschaftlichen Situation."