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KriminalitätDeutschland

Affäre um Drohmails aus Hessen weitet sich aus

16. Juli 2020

Erst ging die Serie rechtsextremer Drohschreiben mit dem Absender "NSU 2.0" vor allem an Politikerinnen der Linken. Nun werden immer mehr Fälle bekannt. Drohmails erhielten nun auch zwei Redaktionen und ein Anwalt.

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Moderatorin Maybrit Illner ZDF
Auch bei ihr ging nun eine Drohmail ein: die ZDF-Moderatorin Maybrit IllnerBild: Imago-Images/J. Heinrich

Die Absender rechtsextremer Drohmails geben keine Ruhe. Im Gegenteil: Sie weiten ihre Aktivitäten aus. Nach Angaben der Frankfurter Staatsanwaltschaft sind erneut mit "NSU 2.0" unterzeichnete Drohmails verschickt worden. Sie seien "an einen größeren Empfängerkreis" gegangen und in ähnlicher Art abgefasst wie die vorangegangenen Drohschreiben, sagte eine Sprecherin der Ermittlungsbehörde in Frankfurt am Main. Zuvor hatten die Linken-Politikerinnen Janine Wissler, Martina Renner, Anne Helm und Helin Evrim Sommer sowie die Kabarettistin Idil Baydar Schreiben erhalten, in denen ihnen der Tod gewünscht wurde. NSU ist die Abkürzung für die neonazistische terroristische Vereinigung "Nationalsozialistischer Untergrund".

Janine Wissler | Die Linke in Hesssen
Auch sie fordert Aufklärung: die Vizevorsitzende der Linken, Janine WisslerBild: picture-alliance/HMB Media/O. Müller

Auch fast zwei Jahre, nachdem die Frankfurter Anwältin Seda Basay-Yildiz die erste Adressatin von Drohschreiben gegen sich und ihre Familie wurde, ist noch nicht bekannt, wer hinter den Schreiben steckt. In den Fällen von Basay-Yildiz, Wissler und Baydar wurden persönliche Daten der Frauen von Polizeicomputern in Frankfurt und Wiesbaden abgefragt, ehe Drohschreiben verschickt wurden.

Todesdrohungen an Journalistinnen

Inzwischen wurden auch Redaktionen mit rechtsextremen Drohmails konfrontiert. Ein Schreiben ging an die Redaktion der ZDF-Sendung "Maybrit Illner". Der Mainzer TV-Sender teilte mit, die Talkshow-Moderatorin habe eine Mail erhalten, in der sie mit dem Tode bedroht werde. Die Ermittlungsbehörden seien informiert. Betroffen ist auch die Zeitung "taz". Ein Sprecher des Blattes berichtete von zwei Schreiben an die Redaktion. Eines davon ging nach Informationen des Hessischen Rundfunks (HR) an die "taz"-Autorin Hengameh Yaghoobifarah. Sie hatte vor einem Monat eine umstrittene Kolumne über die Polizei geschrieben. Laut HR deutet der Verfasser in den Schreiben an, Polizist zu sein.

Der Anwalt Mehmet Daimagüler aus Nordrhein-Westfalen erhielt nach eigenen Angaben ebenfalls eine Nachricht mit der Kennung "NSU 2.0". Daimagüler, der unter anderem Opfer im Prozess um die Neonazi-Terrorzelle NSU vertreten hatte, bestätigte den Eingang auf Anfrage der Deutschen Presse-Agentur. Anzeige habe er bislang nicht erstattet. Der Jurist aus Siegburg sagte, er bekomme sehr oft rechtsextreme Drohmails - dies aber die erste mit dem Absender "NSU 2.0" gewesen sei. Sollte die Echtheit des jüngsten Schreibens durch die Ermittlungsbehörden bestätigt werden, wäre er der erste Mann, der eine Drohmail mit diesem Absender erhielt.

Neuer Polizeipräsident berufen

Am Dienstag hatte der hessische Innenminister Peter Beuth (CDU) den Landespolizeipräsidenten Udo Münch in den einstweiligen Ruhestand versetzt. Münch übernahm damit die Verantwortung für die späte Information der Ministeriumsspitze über die Abfragen von Wisslers Daten. Nachfolger wird der bisherige Präsident des Polizeipräsidiums Südosthessen, Roland Ullmann, wie das Innenministerium mitteilte.

Hessischer Sonderermittler zu «NSU 2.0»-Drohmails
Innenminister Peter Beuth (links) und der neue Sonderermittler zu den Drohmails, Hanspeter MenerBild: picture-alliance/dpa/Hessisches Innenministerium

Beuth muss sich voraussichtlich am kommenden Dienstag in einer Sondersitzung des Innenausschusses im hessischen Landtag zu der Drohmail-Affäre den Fragen der Abgeordneten stellen. SPD und Linke forderten, dass die Sondersitzung öffentlich abgehalten wird und per Livestream übertragen wird.

Der Grünen-Vorsitzende Robert Habeck forderte als Reaktion auf die jüngsten Verdachtsfälle von Rechtsextremismus in der Polizei unabhängige Ermittler sowie Polizeibeauftragte in Bund und Ländern. Er hält es für denkbar, dass sich der Generalbundesanwalt einschaltet.

Illegale Datenabfragen schon 2017

Nach Angaben des Innenministeriums hat es bei der hessischen Polizei bereits im Jahr 2017 illegale Datenabfragen durch Polizisten gegeben. Im Zusammenhang mit staatsanwaltlichen Ermittlungen gegen zwei Mitglieder der rechtsextremistischen Vereinigung "Aryans" sei im September 2017 ein Ermittlungsverfahren gegen einen Polizisten wegen des Verdachts des Geheimnisverrats eingeleitet worden. Die Abfragen in den polizeilichen Datenbanken sollen sich auf eine Person bezogen haben, die der rechtsextremistischen Szene angehörte. Das Ministerium erklärte weiter, die Auswertung eines Chat-Protokolls zwischen dem Tatverdächtigen und einer weiteren Person lasse darauf schließen, dass der Beamte diese Person vor der rechtsextremistischen Person warnen wollte. Der betroffene Polizist sei auf eigenen Wunsch im April 2017 in ein anderes Bundesland versetzt worden.

Deutschland | Kundgebung der hessischen Linken in Frankfurt am Main
Protest in Frankfurt: Die schrittweisen Enthüllungen sorgen in der Öffentlichkeit für BesorgnisBild: picture-alliance/dpa/F. Rumpenhorst

Auch der Südwestrundfunk (SWR) berichtet über unzulässige Datenabfragen durch zwei hessische Polizisten im Jahr 2017. Die Beamten stünden der Reichsbürgerszene nahe, meldet der Sender unter Berufung auf eine bisher unveröffentlichte Vorlage des hessischen Innenministeriums für den Innenausschuss des Landtags vom 3. Juni. Ein strafrechtlicher Anfangsverdacht habe damals jedoch nicht vorgelegen. Laut der Vorlage sei gegen einen Beamten ein Bußgeld verhängt worden, dem anderen seien die Bezüge gekürzt worden. Ob es einen Zusammenhang zu den jüngsten Drohmails gibt, sei unklar.

Seit 2015 wurde laut SWR gegen 65 Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte wegen rechtsextremer Bezüge ermittelt. Aktuell liefen noch 35 Verfahren. In 17 Fällen sei das Verfahren eingestellt worden. Am häufigsten wurde dem Bericht zufolge der strafrechtliche Vorwurf der Volksverhetzung erhoben, gefolgt von der Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen.

kle/sti (dpa, epd, afp)