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Scholz' Schweigen: Was denken deutsche Juden?

18. August 2022

Im deutschen Kanzleramt äußerte sich Palästinenser-Präsident Abbas antisemitisch und voller Hass auf Israel. Und Kanzler Olaf Scholz schwieg. Wie empfinden das Juden in Deutschland?

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Bielefeld Jüdische Gemeinde Irith Michelsohn
Irith Michelsohn entzündet eine Kerze in der Bielefelder Synagoge Bild: Robert B. Fishman/ecomedia/IMAGO

"Als Hamburger und als deutscher Staatsbürger bin ich enttäuscht von diesem Moment." Der 38-jährige Eugen Balin ist Jurist. Und Jude. Am Dienstagabend sah er die Abschluss-Szene der Pressekonferenz von Bundeskanzler Olaf Scholz und Palästinenserpräsident Mahmud Abbas. Da warf der Palästinenser Israel Holocausts am palästinensischen Volk vor. Und der deutsche Kanzler - schwieg.

"Es geht mir nicht um Abbas, es geht um Scholz", sagt Balin der DW. "Abbas hätte das Gleiche an jedem Ort der Welt gesagt, damit muss man immer rechnen. Der Bundeskanzler hätte darauf vorbereitet sein müssen. Das Problem ist, dass er nicht sofort reagiert, sich nicht sofort positioniert hat. Und danach reicht er Abbas sogar noch die Hand. Das hätte so nicht passieren dürfen." Scholz hatte sich erst nach der Pressekonferenz gegenüber der "Bild"-Zeitung geäußert, am anderen Morgen twitterte er in Deutsch, Englisch und Hebräisch: "unsäglich…, unerträglich…, unakzeptabel...". 14 Stunden nach seinem Schweigen.

Nie wieder?

Abbas sorgte mit seinem im Bundeskanzleramt vorgetragenen antisemitischen Furor und seinem Hass auf Israel für Empörung in Deutschland und auf internationaler Ebene. Noch in der Nacht äußerte sich Israels Regierungschef Jair Lapid bestürzt. In Deutschland steht vor allem Scholz für sein Schweigen in der Kritik - als Kanzler, der für die deutsche Solidarität zu Israel steht. Nun streitet die Politik um den weiteren Kurs gegenüber den Palästinensern.

Aber was sagen die Juden in Deutschland, die auf eine klare Linie der deutschen Politik bauen? In den vergangenen eineinhalb Jahren feierte dieses Land "1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland". Veranstaltungen landauf und landab, viele Sonntagsreden. Auch darüber, was sich an Judenhass nie wiederholen dürfe. Aber nun der Holocaust-Vergleich von Abbas - und das Schweigen des Kanzlers.

Am Morgen nach der skandalösen Szene äußerten sich die offiziellen Vertreter. "Dass eine Relativierung des Holocaust, gerade in Deutschland, bei einer Pressekonferenz im Bundeskanzleramt, unwidersprochen bleibt, halte ich für skandalös", twitterte der Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster. So deutlich kritisiert ein Zentralrats-Präsident äußerst selten die deutsche Politik. "Was zählt, sind Taten. Was weitaus weniger zählt als Taten: Tweets. Gestern war ein dunkler Tag", kommentierte der sehr populäre Pianist Igor Levit in einem Tweet.

Fehlte Scholz die "Zivilcourage"?

Und jene Juden in Deutschland, die hier leben, die es gewohnt sind, dass Synagogen bewacht sein müssen, die gelegentlich sehr bewusst auf Merkmale wie die Kippa im Straßenbild verzichten? "Enttäuscht", der Begriff kommt immer wieder, wenn man mit einem halben Dutzend von ihnen kreuz und quer durch die Republik redet. Und immer wieder erwähnen sie die "Zivilcourage", die die Politik so oft bei den Bürgern anmahne – und die Scholz in dem Moment gefehlt habe.

Halle Jüdische Gemeinde Igor Matviyets
Igor Matviyets aus HalleBild: Peter Niedung/NurPhoto/picture alliance

Da ist Igor Matviyets (30) aus Halle. Er ist Jude. Und Sozialdemokrat, Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft "Integration und Vielfalt" in der SPD des Bundeslandes Sachsen-Anhalt. Er sei, sagt er der DW, "gar nicht darüber verwundert, dass Abbas Antisemit ist und den Holocaust leugnet". Das sei allgemein bekannt. Verwundert sei er nur, dass ihm im Kanzleramt "ohne Einordnung eine Bühne für seine Thesen geboten wurde, weil er das letzte Wort hatte".

Leider schaue die Bundesregierung ja kontinuierlich weg, wenn es um Geldzahlungen an die palästinensische Seite oder Judenhass in palästinensischen Schulbüchern gehe. Der jetzige Auftritt von Abbas sei nur "die traurige Kirsche auf der Torte".

Ihm mangele es, sagt Matviyets, nicht an der Überzeugung, "dass Olaf Scholz auf der richtigen Seite" stehe. Aber es falle vielen Deutschen offensichtlich schwer, "im entscheidenden Moment hart zu reagieren". Viele derer, die Rassismus oder Antisemitismus erlebten, sagten hinterher: "Es fehlt an Menschen, die Zivilcourage haben." Er hätte sich "natürlich gewünscht, dass Scholz sofort antwortet und sofort reagiert". Hinterher und Stunden später falle es immer leicht, betroffen Solidarität zu äußern. In Deutschland gebe es an die 200.000 Juden. "Wenn hinter uns eine Mehrheit nicht den Rücken gerade macht, dann fühlt man sich einfach angegriffen."

"Die späte Antwort kam zu spät"

Elias Dray ist orthodoxer Rabbiner in Amberg im Nordosten Bayerns, seiner Geburtsstadt. Im Januar 2021 gehörte er zu jenen, die bei einer Sondersitzung des Bundestages in Berlin im Mittelpunkt standen. Da wurden im Andachtsraum des Parlaments die letzten hebräischen Buchstaben der über 200 Jahre alten Thorarolle aus Sulzbach bei Amberg, die die Shoa wundersam überstanden hatte und restauriert worden war, aufs Papier gemalt. Und in dem engen kleinen Raum standen neben Dray der Bundespräsident und die Kanzlerin, alle weiteren Spitzen des Staates. Und manch einer hatte feuchte Augen vor Rührung. Jüdisches Leben!

Holocaust-Gedenktag Berlin | Rabbiner Elias Dray (l) und Rabbiner Shaul Nekrich
Rabbiner Elias Dray (links) mit der Thorarolle 2021 im Andachtsraum des BundestagesBild: Odd Andersen/AFP/dpa/picture alliance

Auch Dray sah die Szenen mit Abbas und Scholz. "Ich hätte erwartet, dass er sofort etwas sagt", betont er gegenüber der DW. Und kommt auch gleich von sich aus auf den Begriff der Zivilcourage. "Zivilcourage fängt nicht damit an, dass man hinterher auf Twitter etwas schreibt." Er finde "die späte Antwort zu spät" und sei deshalb enttäuscht. Zumal Abbas nur das offen gesagt habe, "was alle wissen konnten".

Ähnlich äußert sich Irith Michelsohn, Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde in Bielefeld (im Bild ganz oben). Sie habe in dem Moment "Enttäuschung und Verwunderung" empfunden. "Man muss da gleich vehement einschreiten." Sie wisse nicht, "ob Olaf Scholz in dem Moment sprachlos war und nicht kontern konnte". Aber eins, sagt Michelsohn, sei ihr wichtig zu erwähnen. Weder bei der Bundesregierung noch bei den Abgeordneten des Bundestages habe sie - mit Ausnahme der AfD - das Gefühl, "allein gelassen zu werden". Als Jüdin fühle sie sich auch in der Zivilgesellschaft nicht allein gelassen.

"Wir müssen vorbereitet sein"

Auch Andrei Kovacs, Kölner Jude, empfand die Äußerungen von Abbas als "dreist und antisemitisch", aber nicht als "überraschend". Man kenne frühere Äußerungen des Palästinenser-Präsidenten. Es hat gezeigt, "dass wir auf der anderen Seite vorbereitet sein müssen". Denn Vertreter aus dem Ausland versuchten gelegentlich, auf einer deutschen Bühne ihren Israelhass zu verbreiten.

Hannover Jüdische Gemeinde Andrei Kovacs
Andrei Kovacs plante das Themenjahr zum jüdischen Leben in Deutschland mitBild: Michael Matthey/IMAGO

Anderthalb Jahre lang feierte Deutschland bis zu diesem Sommer "1700 Jahre jüdisches Leben". Es gab viele hundert Veranstaltungen. Als Geschäftsführer wirkte Kovacs bei dem Projekt führend mit. Das Themenjahr habe "ein Stück dazu beigetragen, die Sensibilität der Gesellschaft zu stärken". Und es gehe um Sensibilität nicht nur für eine jüdische Perspektive, sondern für eine weitere Perspektive derer, die Migrationshintergrund haben und Ausgrenzung erfahren. "Dazu gehört, dass man einfach alert sein sollte, auch wenn man in einer Pressekonferenz steht." "Alert", das klingt nach Alarm. Das Wort verwendet er mehrfach in dem Zusammenhang. 

Noch einmal nach Hamburg, zu Jurist Balin. Er wird beim Schweigen von Scholz ganz grundsätzlich. In dem Moment sei es "nicht um eine politische Frage, sondern um den Grundkonsens der Gesellschaft" gegangen, um "ein Wesensmerkmal der freiheitlich demokratischen Grundordnung und unserer Demokratie".

Vom Kanzleramt zur Documenta 

Und Balin spricht die umstrittene Documenta-Schau in Kassel an. In diesem Zusammenhang kann er da, wo es um das Wesentliche der Gesellschaft geht, auch loben. Seit vielen Wochen wird in Deutschland über antisemitische Darstellungen bei der Kasseler Schau diskutiert. Die Debatte und die Enthüllungen hässlicher und verletzender Klischees nehmen kein Ende. Der Kolumnist Sascha Lobo verwendete früh den Begriff "Antisemita 15" für die in früheren Jahren weltweit geschätzte Schau.

Deutschland Kassel | Eröffnung documenta fifteen | Frank-Walter Steinmeier
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier während seiner Eröffnungsrede auf der DocumentaBild: Swen Pförtner/dpa/picture alliance

Zum Auftakt der "Documenta" sprach Mitte Juni Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Der habe, betont Balin ausdrücklich, eine "herausragende Rede" gehalten, mahnend und grundsätzlich. Und doch gebe es seitens der Kasseler Verantwortlichen und in Teilen der Kulturszene seitdem "ein Kratzen am Grundkonsens der bundesrepublikanischen Geschichte, der Mahnung vor neuem Antisemitismus". Für ihn sei das geradezu eine "Nichtachtung der Positionierung des Bundespräsidenten".

Mag sein, dass das Staatsoberhaupt sich in den nächsten Tagen zu Abbas oder zu gefährlichem Schweigen äußern wird. Am Montag kommt, seit langem geplant, der neue israelische Botschafter Ron Prosor (63) ins Schloss Bellevue, um sein Beglaubigungsschreiben zu überreichen. Eine Gelegenheit für ein paar grundsätzliche Worte: Prosors Vater wurde 1927 in Berlin geboren und floh bereits 1933 aus Nazi-Deutschland. Nun ist es ein Termin, dem nicht nur in Israel, sondern auch bei Juden in Deutschland besondere Aufmerksamkeit gilt.