80 Jahre Aufstand im Warschauer Ghetto
14. April 2023Zerrissene Kleiderstücke, zerbrochenes Porzellan, ein verrosteter Kinderwagen - die Gegenstände, die sich auf provisorischen Matten in den Räumen des ehemaligen Kinderkrankenhauses in Warschau stapeln, sind Zeugnisse des auf brutalste Art zerstörten jüdischen Lebens. Hier findet man alles: von Töpfen bis zum kostbaren Schmuck und den Tefillin, den Lederriemen, die die Juden beim Gebet tragen. Sie wurden während der seit Sommer 2022 andauernden archäologischen Arbeiten auf dem Gelände des ehemaligen Warschauer Ghettos ausgegraben.
Das Ghetto war von den Deutschen, die Polen schon seit Herbst 1939 besetzt hatten, im Oktober 1940 errichtet worden und war das größte jüdische Ghetto in den besetzten Gebieten Europas. Von hier wurden 300.000 Menschen in den Tod, in die Gaskammern der Vernichtungslager geschickt.
Für den Historiker Albert Stankowski hat ein verkohlter Türgriff mit dem darin steckenden Schlüssel eine besondere Symbolik. Er nimmt ihn sehr vorsichtig in die Hand, trägt dabei weiße Handschuhe und ist berührt. "Schlüssel und Türen sind ein Symbol für das Zuhause. Und diese Menschen sind nie in ihre Wohnungen, in ihre Häuser zurückgekehrt. Sie wurden deportiert oder unter den Trümmern begraben."
Stankowski erklärt, warum der Schlüssel im Türgriff stecke: "Bei den Deportationen in die Konzentrationslager galt eine deutsche Anordnung, dass die Juden ihre Schlüssel in der Tür lassen sollten, damit die Nazi-Besatzer diese Wohnungen gleicht komplett übernehmen konnten."
Dieses Ausgrabungsstück wird künftig, neben vielen anderen, im Museum des Warschauer Ghettos ausgestellt. Das Museum entsteht gerade im ehemaligen Krankenhausgebäude des Ghettos und soll 2025 eröffnet werden. Die meisten Gegenstände stammen aus der Mila-Straße, wo sich 1943 der Bunker der Kommandantur der Jüdischen Kampforganisation (ZOB) befand.
Der verzweifelte Widerstand der Juden
Zusammen mit dem Jüdischen Militärverband (ZZW) und anderen Widerstandsgruppen erhoben sich die Mitglieder der ZOB gegen die deutschen Besatzer. Lieber im Kampf fallen, als im Krematorium eines Vernichtungslagers zu Asche verbrannt werden, lautete ihre Devise.
Nachdem im Sommer 1942 etwa 300.000 Juden ins Konzentrationslager Treblinka nordöstlich von Warschau deportiert worden waren, lebten im Frühjahr 1943 schätzungsweise noch 50.000 Menschen auf dem Ghettogelände. Der einzige Weg aus der Ghettohölle schien nur noch in die Gaskammer zu führen. Das Ghetto sollte nach SS-Plänen im Laufe des Jahres 1943 liquidiert werden.
Kaum Waffen, erbitterter Widerstand
Der Aufstand begann am 19. April 1943, als die jüdischen Widerstandskämpfer, meist junge Männer und Frauen, eine SS-Kolonne beschossen. Die Nazis waren ins Ghetto einmarschiert, um mit der Liquidation zu beginnen. Es war die jüdische Pessach-Woche.
Teilweise unterstützt von den polnischen Partisanen, waren die 1000 jüdischen Kämpfer mit viel zu wenig Waffen und Munition den deutschen Truppen hoffnungslos unterlegen. Trotzdem schafften sie es, den deutschen Soldaten unter dem Kommando des SS-Gruppenführers Jürgen Stroop wochenlang erbitterte Kämpfe zu liefern.
Lieber sterben als kapitulieren
Die Deutschen setzten die Häuser mit Feuerwerfern in Brand, die meisten jüdischen Aufständischen wurden im Kampf getötet oder hingerichtet, die letzten Einwohner des Ghettos wurden dort ermordet oder in die Vernichtungslager Treblinka und Majdanek deportiert.
Als am 7. Mai 1943 der Bunker der jüdischen Kommandantur an der Mila-Straße entdeckt wurde, wählten die Kämpfer, die sich dort versteckt hatten, darunter der Anführer des Aufstands, Mordechai Anielewicz, den Freitod.
Der Historiker Stankowski sieht in dem Selbstmord eine "symbolische Geste". Sie gehe auf die Geschichte des jüdischen Volkes aus dem Jahr 72 nach Christus zurück, "als die Juden auf der belagerten Wüstenfestung Masada beschlossen, lieber Selbstmord zu begehen, als sich den Römern zu ergeben", erläutert er.
Am 16. Mai 1943 ließ Stroop die große Synagoge in Brand setzen und schrieb in seinem Rapport an die Vorgesetzten: Das ehemalige jüdische Wohnviertel Warschau besteht nicht mehr.
Ende des jüdischen Lebens in Polen
Nur wenige Menschen überlebten das Massaker. Eine Gruppe Aufständischer mit ihrem Anführer Marek Edelman floh aus der deutschen Umzingelung durch die Kanalisation und verließ das Ghetto mit einem LKW. Edelman kämpfte weiter im Untergrund. 1944 schloss er sich dem Warschauer Aufstand an. Dabei kämpften 50.000 Partisanen der polnischen Heimatarmee zwei Monate lang gegen die deutschen Besatzer.
Vor dem Zweiten Weltkrieg gab es fast 3,5 Millionen Juden in Polen, sie stellten zehn Prozent der Bevölkerung im Land. In Warschau waren es 30 Prozent. Im Holocaust wurden drei Millionen polnische Juden ermordet, wenige hunderttausend überlebten. Nach dem Krieg verließen die meisten Überlebenden Polen, auch weil es zu antijüdischen Pogromen kam. Für viele jüdische Menschen wurde das Land zu einem einzigen großen Friedhof, der ihre Nächsten und ihr ganzes früheres Leben barg.
Kampf ums Gedenken
Marek Edelman blieb nach dem Krieg in Polen. Er wurde Arzt, ein Kämpfer für Menschenrechte und aktives Mitglied der antikommunistischen Opposition. Als einer der wenigen Zeitzeugen hielt er die Erinnerung an das Leben im Ghetto und an den Aufstand wach.
Oft musste Edelman das mit seinen Freunden illegal tun, weil sich die Kommunisten mit der Geschichte des jüdischen Lebens in Polen schwertaten und manchmal selbst Antisemitismus schürten. Als 1970 Bundeskanzler Willy Brandt vor dem Denkmal der Ghetto-Helden in Warschau niederkniete, waren die polnischen Kommunisten so verblüfft, dass keine polnische Zeitung darüber etwas veröffentlichte.
Symbolträchtiger Jahrestag
Zum 80. Jahrestag des Beginns des Ghetto-Aufstands am 19. April tragen viele Menschen in Warschau und anderen Städten Polens gelbe Ansteckblumen, die das Museum der Geschichte der polnischen Juden, POLIN, verteilt. Jedes Jahr sind es 450.000 Papiernarzissen. So viele Menschen lebten im Frühjahr 1941 auf dem Ghettogelände auf 307 Hektar, was zwei Prozent der Fläche von Warschau ausmachte. Gelbe Blumen legte auch der 2009 verstorbene Marek Edelman am Denkmal der Ghetto-Helden nieder.
Albert Stankowski betont, dass in diesem Jahr - anders als in früheren Jahren - kaum noch Zeitzeugen der damaligen Ereignisse an den Feierlichkeiten anwesend sein werden. "Meine Generation hatte noch Großeltern, die wir fragen konnten. Meine Kinder haben diese Möglichkeit nicht mehr", sagt der 50-Jährige.
Umso wichtiger sei, dass die Botschaft dieses Tages in die ganze Welt gehe. "Es gibt auch heutzutage Menschen, die den Holocaust leugnen. Und es gibt kaum noch Zeitzeugen, die man fragen kann. Deshalb ist der Moment des Gedenkens auch dafür da, um zu zeigen, dass dieses unvorstellbare Verbrechen wirklich stattgefunden hat und dass so viele Millionen Menschen ihr Leben verloren haben."