300 Jahre Robinson Crusoe
25. April 2019"Der Robinson unserer Träume ist ein anderer als der des Daniel Defoe", schrieb der Literaturkritiker Ulrich Greiner vor 40 Jahren. Recht hat er. Daran hat sich auch bis heute kaum etwas geändert. Der Roman "Robinson Crusoe", geschrieben vor rund 300 Jahren vom damals fast 60-jährigen englischen Journalisten und Schriftsteller Daniel Defoe, ist das eine. Das, was die allermeisten Menschen heute mit "Robinson Crusoe" verbinden, ist etwas anderes.
Werkgetreue Robinson-Crusoe-Übersetzungen führen zum Ursprung zurück
Die soeben in Deutschland erschienene Neuübersetzung von Rudolf Mast, die erste vollständige seit 1973, macht das mehr als deutlich. Für Übersetzungen in andere Sprachen dürfte ähnliches gelten. Defoes Roman ist heute weltberühmt, doch gelesen haben dürfte ihn kaum jemand - zumindest nicht den "richtigen" Roman. Das, was die allermeisten Kinder und Jugendliche, aber auch die Erwachsenen heute kennen, sind Reader's-Digest-Versionen, Jugendbuchausgaben, TV-Mehrteiler und Kinofilme, die sich den Stoff einverleibt haben.
Worin liegt der Unterschied? Kurz gesagt: Der Original-Roman ist die in weiten Teilen akribisch erzählte, mit unendlich vielen Details versehene Geschichte eines Mannes, der unfreiwillig 28 Jahren auf einer einsamen Insel verbringt und dort seinen mühseligen Alltag zu meistern versucht. Die Suche nach Gott und dem rechten Glauben spielen dabei eine nicht unerhebliche Rolle.
Eingefasst ist dieser Haupterzählstrang von Episoden vor dem Schiffbruch und der Zeit nach der Rettung des Protagonisten. Diese beiden Teile sind weit mehr als nur kurzer Prolog und Epilog, sie sind vielmehr eigenständige erzählerische Stränge.
Die meisten späteren "Robinson"-Bücher verkürzten das Werk stark
Die "Robinson"-Bücher hingegen, die den Stoff für Kinder und Jugendliche aufbereiteten, die verkürzten und eingeschliffenen Übersetzungen für Erwachsene, von den zahlreichen Verfilmungen ganz zu schweigen, verdichten die Geschichte auf wenige spektakuläre Höhepunkte: Segelfahrt - Schiffbruch - Leben auf der Insel - Begegnung mit dem Gefährten Freitag - Flucht und glückliches Ende.
Defoe veröffentlichte seinen Roman im Jahre 1719, er entwickelte sich rasch zum Verkaufsschlager. Liest man das Original heute (oder eine werkgetreue Übersetzung), stößt man auf weit mehr als auf eine reine Abenteuergeschichte. Es ist eine Art Bekehrungs-Saga mit pädagogischen Zielen. Der Protagonist löst sich aus seinem puritanischen Elternhaus und fährt - gegen den Willen des Vaters - zur See. Nach dem Schiffbruch und den ersten Jahren auf der Insel findet er zu Gott und einem "erfüllten" Leben.
Universitäten und Literaturwissenschaft stürzten sich auf "Robinson Crusoe"
Über das Buch ist in den vergangenen 300 Jahren viel geschrieben worden. Ganze Bibliotheken sind entstanden, viele kluge Kommentare zu Papier gebracht worden: "Robinson Crusoe ist die Verkörperung des aufklärerischen Fortschrittsglaubens und puritanisch-bürgerlichen Individualismus, der mit Gottvertrauen und Common Sense jegliche Situation zu meistern versteht, pragmatisch, utilitaristisch und ökonomisch denkt, sich die Natur untertänig macht und redlich erarbeitetes irdisches Wohlergehen mit göttlichem Wohlgefallen gleichsetzt", lautet beispielsweise der Kommentar in einer etablierten Literaturgeschichte.
Genau diese Gleichsetzung von Inselgeschichte und religiösem Unterbau macht das Werk in seinem Kern aus. Ohne diese philosophischen Gedanken ist "Robinson Crusoe" eigentlich nicht denkbar. Und doch entfernten sich die Übersetzungen, literarischen Verdichtungen oder Varianten (auch anderer Autoren) sowie die späteren Filmumsetzungen von diesem Kern, höhlten den Roman in den folgenden Jahrhunderten aus.
"Im 18. Jahrhundert fand Defoes Roman vor allem in Deutschland Nachahmer, die das Inselabenteuer als zivilisationsentrückte Idylle verherrlichten", schreibt Christiane Zschichert beispielsweise in "Bücher - Alles, was man lesen muss".
Das Buch beeinflusste Generationen
Rolf Vollmann bemerkt in "Der Romannavigator: Zweihundert Lieblings-Romane" zu dem 1779 vom Deutschen Joachim Heinrich Campe geschriebenen Buch "Robinson der Jüngere. Zur angenehmen und nützlichen Unterhaltung für Kinder": "Es war dieses Buch, das (…) sehr bald überall in Europa übersetzt und den Knaben zu lesen gegeben wurde, weit öfter als das auch nicht unverbreitete Original - ganze Generationen wurden auf diese Art zu Männern gemacht, die heimlich auf Inseln zu Hause sind und dort auf Gott und die eigene Kraft bauen, mit dem lieben Freitag dabei…"
Warum ist der Roman von Daniel Defoe, der sich so akribisch mit Überlebenstechniken in Sachen Land- und Forstwirtschaft, Tierzucht und Ackerbau beschäftigt, der nach einem gottgefälligen Leben sucht, trotzdem nicht in Vergessenheit geraten? Warum hat sich gerade dieses Buch über die Jahrhunderte gehalten? Und warum kennt ihn fast jedes Kind noch heute, in digitalen Zeiten, zumindest vom Titel her?
Robinson Crusoe: Unsterblicher literarischer Held
Günter Wessel gibt im Nachwort der Neuübersetzung einige Erklärungsversuche: "Robinson durchlebt auf seiner Insel all die Konflikte, die jedes Individuum und damit auch jede Gesellschaft immer wieder durchlebt: Ihn beschäftigt das Verhältnis von Natur zu Kultur, von Einsamkeit und Gesellschaft, von Verzicht und Gier, von Besitz und Existenz - auch die Sehnsucht nach einer Weltflucht kommt bereits vor." Damit, so Wessel, sei "'Robinson Crusoe' nicht nur unsterblich, sondern zutiefst aktuell und lebendig."
Heute sind den allermeisten Menschen eine amerikanische Serie wie "Lost" (2004 - 2010) und ein Hollywood-Film wie "Cast Away" (2001) mit Tom Hanks, die typische "Robinsonaden" erzählen, wesentlich näher. Inspirieren ließen sich all diese Filmautoren und Regisseure aber von Daniel Defoe, einem englischen Schriftsteller, der 1719 die Leser mit einem Roman beglückte, der (wenn auch vielfach in abgewandelter Form) noch heute fasziniert - 300 Jahre nach seinem Erscheinen.