"24-Stunden-Pflege": Mehr Fortschritt im Süden
2. Juli 2021Izabela Marcinek berichtet aus eigener Erfahrung: "Polnische Betreuerinnen fliehen aus Deutschland in die Schweiz", so die Altenpflegerin aus Polen, die jahrelang in der Bundesrepublik gearbeitet hat. "Die Unterschiede sind gewaltig, vor allem was geregelte Arbeitszeiten angeht." In der deutschen Pflegebranche seien fehlende Pausen und unbezahlte Überstunden die Regel. In der Schweiz kümmert sich Marcinek jetzt um eine 93-jährige Dame, die verabredete Arbeitszeit von 42 Stunden wöchentlich werde eingehalten.
Dass sie mit ihrer neuen Stelle zufrieden ist, verdankt Izabela Marcinek anderen "24-Stunden-Pflegenden", die in der Schweiz seit zehn Jahren auf bessere Bedingungen pochen. 2015 gewann eine von ihnen - die ebenfalls aus Polen stammende Agata J. - einen wichtigen Prozess: Der Arbeitgeber musste ihr 13.000 Schweizer Franken für Überstunden und Bereitschaftszeiten nachzahlen. "Das war ein bahnbrechendes Urteil", erinnert sich Elvira Wiegers vom Verband des Personals öffentlicher Dienste (vpod), der Schweizer Gewerkschaft, die den Fall betreute.
Zur Zeit rüttelt auch in Deutschland ein Urteil die Branche auf: Am 24.06.2021 entschied das Bundesarbeitsgericht, dass den meist weiblichen und aus Osteuropa stammenden ausländischen Betreuungskräften in der Bundesrepublik für Bereitschaftszeiten der Mindestlohn zusteht. Da sie bei den Senioren wohnen, die sie betreuen, und oft rund um die Uhr auf Abruf sind, könnte dieser Anspruch für bis zu 24 Stunden gelten. Das Problem betrifft zwischen 100.000 und 300.000 deutsche Familien.
Schweiz: Modellverträge der Regierung
Die Schweiz und Österreich sind bei der Regulierung des Pflege-Arbeitsmarktes weiter als die Bundesrepublik. Dabei gehen beide Länder ganz unterschiedliche Wege. Die Schweizer Regierung hat nach dem Urteil aus dem Jahr 2015 einen "Modell-Normalarbeitsvertrag" für die Branche entwickelt. Er regelt unter anderem die Arbeitszeit der Betreuenden (wöchentlich 44 Stunden), den Freizeitanspruch (ein ganzer und ein halber Tag pro Woche) und die Bezahlung von nächtlichen Bereitschaftszeiten (von 25 Prozent bis 50 Prozent des Stundenlohns, je nachdem wie oft die Pflegenden in der Nacht aufstehen müssen).
Für die Umsetzung des Modell-Normalarbeitsvertrags zuständig sind jedoch die Schweizer Kantone. "Die fortschrittlichen Kantone haben die Regeln aufgenommen - die anderen nicht", sagt Elvira Wiegers von der Gewerkschaft vpod. In den letzten Jahren hätten rund zehn weitere Prozesse sowie die Gründung des Betreuerinnen-Netzwerks "Respekt" die öffentliche Wahrnehmung der Pflegebranche in der Schweiz gestärkt. Aber es gebe noch viele Probleme, so Wiegers weiter, zum Beispiel mit unbezahlten Überstunden. Immerhin: "Es ist durchgedrungen, dass der Bereitschaftsdienst entlohnt wird."
Arbeitszeiten per Email an die Behörden
Tatsächlich kostet der regulierte Pflege-Arbeitsmarkt die betroffenen Familien mehr. Die Preise der Vermittlungsagenturen für die Schweiz im Internet reichen von 4200 bis 7400 Schweizer Franken (etwa 3800 bis 6700 Euro), je nach Region und Pflegezustand. Viele Vermittlungsgebühren entfallen jedoch, wenn Familien Betreuende direkt bei sich anstellen. In der teuren Schweiz verdienen Pflegende auch besser als in Deutschland: Netto kommen sie auf 2300 bis 2700 Franken (2100 bis 2400 Euro) im Monat.
Izabela Marcinek wurde im Kanton Aargau direkt von den Angehörigen "ihrer" Seniorin angestellt. "In den ersten zwei Monaten in der Schweiz habe ich meine Arbeitszeitlisten abfotografiert und den Behörden per Email zur Kontrolle geschickt", erzählt die 58-jährige Polin. "Natürlich, wenn ich abends höre, dass mit meiner Seniorin etwas ist, dann gehe ich hin und kümmere mich", erzählt sie. Wenn das regelmäßig stattfände, würde sie mit der Familie über eine entsprechende Anpassung ihres Vertrags sprechen, sagt Marcinek.
Österreich: Kritik der Scheinselbständigkeit
Verhandeln können theoretisch auch die ca. 60.000 Betreuenden in Österreich: Fast alle arbeiten als Selbständige. "Die wirkliche Macht aber haben die Vermittlungsagenturen, wir können nicht viel entscheiden", sagt Csilla, eine Betreuerin aus der Slowakei, die ihren Nachnamen nicht veröffentlicht sehen will. Sie arbeitet seit 20 Jahren in der Alpenrepublik: erst ohne Vertrag und seit der Einführung des Hausbetreuungsgesetzes im Jahr 2007 als Unternehmerin. "Es ist besser als vorher, aber die Hälfte der Arbeit bleibt schwarz", sagt sie.
Die Pflegenden in Österreich werden zwar nun versichert und angemeldet - aber als Selbständige haben sie keinen Anspruch auf Überstunden oder Entlohnung von Bereitschaftszeiten. Die Stellen werden über Agenturen vermittelt, die die Preise festlegen. Die Tagessätze der Pflegenden variieren zwischen 50 und 80 Euro brutto. Die Ausgaben der Betreuten - 2400 bis 3000 Euro im Monat - werden bei niedrigem Einkommen vom Staat gefördert.
Arbeitnehmer oder Unternehmer?
Gerade in Deutschland wird Österreich oft als Vorbild genannt: "Betreuung in häuslicher Gemeinschaft ist durch klassische Arbeitsverträge meist nicht darstellbar", sagt Daniel Schlör, Vorsitzender des deutschen Bundesverbandes für häusliche Betreuung und Pflege (VHBP), der die Vermittlungsagenturen vertritt. "Unser Rechtssystem bietet für das Leben und Arbeiten an einem Ort derzeit keine Lösung. Wir brauchen dringend eine Alternative wie in Österreich."
Wolfgang Mazal, Professor für Arbeits- und Sozialrecht an der Universität Wien, sieht dagegen im österreichischen Modell "kein Vorbild" für Deutschland: "Wenn man weisungsgebunden ist", wie es die Betreuerinnen in den Haushalten von Senioren seien, "dann ist man Arbeitnehmer, kein Unternehmer", erklärt Mazal und verweist auf eine Entscheidung des österreichischen Obersten Gerichtshofs aus dem Jahr 2011, der Pflegetätigkeiten ähnlich einstuft. "Ich finde es skandalös, dass eine höchstrichterliche Entscheidung zu diesem Thema ignoriert wird", kommentiert Mazal. Er verfolgt aufmerksam die deutsche Debatte und findet, dass auch in Österreich Klagen von Betreuenden "in der Luft hängen".
Betreuende haben noch viel Arbeit vor sich
In der Schweiz hat sich der Weg über die Gerichte für die Betreuenden ausgezahlt. Jetzt passen die Pflegenden ihre Strategie an: "Wenn wir früher von Ausbeutung am Arbeitsplatz erfuhren, haben wir bis zum Ende der Vertragszeit gewartet und sind dann vor Gericht gezogen", berichtet Elvira Wiegers von der Gewerkschaft vpod. Jetzt stelle das Netzwerk "Respekt" auf Aufklärung und Schulung um: "Wir wollen, dass die Frauen von Anfang an wissen, was ihre Rechte sind und wie sie diese einklagen können."
Das wird wohl noch lange nötig sein, denn die Pflegebranche macht sich die Lohngefälle in Europa zunutze. Um Kosten zu drücken, wird in immer mehr ärmeren Ländern nach Arbeitskräften gesucht, die bereit sind, Senioren rund um die Uhr zu betreuen. Csilla hat das auch in Österreich beobachtet: "Zuerst waren es Frauen aus Tschechien und der Slowakei, dann Rumäninnen und Bulgarinnen, jetzt suchen die Firmen Pflegepersonal in der Republik Moldau und der Ukraine."