Nach 9/11: Militante Islamisten in Deutschland
4. September 2021Sven Kurenbach kann sich noch genau erinnern. An den Tag, als die Bilder der zusammenstürzenden Zwillingstürme des World Trade Centers in New York über die Bildschirme der Welt flimmerten, an die Schweigeminute bei der Berliner Polizei, zu der alle spontan zusammenkamen. Als islamistische Terroristen am 11. September 2001 Passagierflugzeuge zu Waffen machten und fast 3000 Menschen töteten, war Kurenbach noch Inspektionsleiter bei den Spezialeinheiten der Berliner Polizei. Heute ist er Deutschlands oberster Dschihadistenfahnder.
Islamistischer Terror sei damals noch kein Begriff gewesen bei den deutschen Sicherheitsbehörden, blickte Kurenbach kürzlich bei einer Veranstaltung des Mediendienstes Integration in Berlin zurück. Gerade mal ein Dutzend Beamte beim Staatsschutz hätten sich damit befasst. Seit 2019 leitet Kurenbach beim Bundeskriminalamt (BKA) die neu eingerichtete Abteilung "Islamistisch motivierter Terrorismus/Extremismus". Rund 500 Kriminalbeamte, Wissenschaftler, Übersetzer, Analysten ermitteln dort gegen Islamisten, beobachten Gefährder, versuchen, Anschläge zu verhindern.
Terroremirat Afghanistan?
Dass zwei Jahrzehnte nach den Anschlägen vom 11. September 2001 erneut die Flagge der Taliban über Kabul und weiten Teilen Afghanistans weht, erfüllt Kurenbach mit Sorge: "Meine Befürchtung ist, dass die Taliban unterschiedlichste Terrororganisationen auf ihrem Staatsgebiet tolerieren werden, dass es wieder zu Ausbildungslagern kommen wird", antwortet er auf eine Frage der DW. "Die hat es insbesondere in der Grenzregion Afghanistan und Pakistan immer gegeben." Kurenbach verweist auf aus den Schlagzeilen verschwundene Organisationen, die schon im Namen einen deutschen Bezug haben wie die Deutsche Taliban Mudschahidin. "Die haben damals schon Propagandavideos gedreht in den Bereichen, wo die Taliban einigermaßen das Sagen hatten in Afghanistan."
Schon jetzt, hat Kerstin Eppert beobachtet, würden die Entwicklungen in Afghanistan auch in Deutschland durch verschiedene Gruppen propagandistisch ausgewertet. Der Einzug der Taliban in Kabul, so die Islamismusexpertin aus Bielefeld, sei "ein Geschenk für die Bewegung in Deutschland". Nach dem Niedergang des IS in Syrien sprächen Islamisten jetzt wieder von einem "Sieg des Islam".
Über 1000 "Gefährder" und "relevante Personen"
Aktuell beläuft sich die Zahl der sogenannten "Gefährder" im Bereich islamistischer Terrorismus nach BKA-Angaben auf 554 Personen, von denen 90 in Haft und 136 im außereuropäischen Ausland leben - etwa in der nordsyrischen Rebellenhochburg Idlib. Der etwas schwammige Begriff "Gefährder" bezeichnet Menschen, die "politisch motivierte Straftaten von erheblicher Bedeutung" begehen könnten.
Dazu kommen noch einmal 527 "relevante Personen". Das sind Menschen im Umkreis von Gefährdern, denen die Behörden zutrauen, bei Terrorakten logistische oder andere Unterstützung zu leisten.
Damit ist die Zahl der islamistischen Gefährder in Deutschland im Vergleich zum Dezember 2019 um rund ein Viertel zurückgegangen. Damals hatte die Bundesregierung in einer Antwort auf eine Kleine Anfrage der FDP-Fraktion noch 679 religiös motivierte Gefährder genannt.
Der Islamwissenschaftler Michael Kiefer bestätigt, seit dem Scheitern des IS in Syrien seien die militanten Kräfte zurückgedrängt worden zu Gunsten klassisch islamistischer Netzwerke. Aber auch Kiefer betont: Das Thema werde uns erhalten bleiben.
Das zeigt auch ein Blick in die Verfassungsschutzberichte. Vor 20 Jahren war das Thema Islamismus noch untergebracht im Abschnitt "Sicherheitsgefährdende und extremistische Bestrebungen von Ausländern". Der jüngste Verfassungsschutzbericht hat ein eigenes Kapitel "Islamismus/islamistischer Terrorismus", knapp 70 Seiten stark.
Rekrutierungshilfe "War on Terror"
Das Wachstum islamistischer Strömungen weltweit und auch in Deutschland hat auch mit der Art und Weise zu tun, wie der vor zwei Jahrzehnten vom damaligen US-Präsidenten George W. Bush ausgerufene "Krieg gegen den Terror" geführt wurde. Der völkerrechtswidrige Angriff auf den Irak, die Wiedereinführung von Folter unter dem beschönigenden Begriff "verschärfte Verhörtechniken" (enhanced interrogation techniques), die jahrzehntelange Inhaftierung von Menschen ohne jedes Gerichtsurteil etwa auf der US-Marinebasis Guantanamo, die massiven Übergriffe von privaten Sicherheitsfirmen sowie Bushs "Kreuzzugs"-Rhetorik - all das hat in der islamistischen Propaganda eine Rolle gespielt. "Man hat das gerne aufgegriffen und seine Opfernarrative daran weiterentwickelt", erklärt Michael Kiefer. Damit habe man den Terror als Verteidigungskrieg verklären können.
Der Politikwissenschaftler Julian Junk von der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) pflichtet bei: "Wir können feststellen, dass die extralegalen Methoden im 'War on Terror' mobilisierend gewirkt haben für salafistische und dschihadistische Gruppen", sagt Junk im DW-Gespräch. "Diese Unrechtserfahrungen können zu Radikalisierungsprozessen beitragen - die allerdings selten monokausal sind."
Internet, Propaganda, Prävention
Junk verweist aber auch auf andere Faktoren, die in den letzten 20 Jahren eine Rolle gespielt haben, zum Beispiel der technologische Wandel: "Wir haben heute Drohnen, Algorithmen im Netz, die Möglichkeit, sich verschlüsselt schnell transnational zu organisieren oder Informationen auszutauschen, Ideen wandern zu lassen. Das alles trägt dazu bei, dass es gefühlt mehr Mobilisierung für Terrorismus gibt und zugleich die Angst vor ihm wächst." Zugleich eröffneten diese neuen Techniken aber auch Spielräume, dem Terrorismus präventiv oder polizeilich zu begegnen, so Junk.
Stichwort Prävention. Mehr als 1000 Deutsche waren nach 2014 ins Gebiet des Terrorkalifats in Syrien und dem Irak ausgereist, um sich dem sogenannten "Islamischen Staat" anzuschließen. Die Ausreisewelle habe die deutschen Behörden überrascht, sagt Islamismus-Experte Kiefer. Dann aber hätten Bund und Länder viel Geld für Präventionsprogramme in die Hand genommen. Kiefer spricht von über 100 Millionen Euro jährlich. Die richten sich speziell gegen den Salafismus. Diese besonders konservative Auslegung des Islam liefert oft die ideologische Basis für militante Dschihadisten.
Besonders Salafisten würden sich selbst erhöhen als einzige Vertreter des wahren Glaubens - und andere abwerten. In diesem extremen Schwarzweiß-Denken würden Feinde dämonisiert und ihnen werde die Menschlichkeit abgesprochen. Eine Eigenschaft, wie Michael Kiefer notiert, die Islamisten mit Rechtsextremisten teilen.