Ein mörderischer Schuss
1. Juni 2017Mit dem kollektiven Gedächtnis ist das so eine Sache. Die Wiedervereinigung Deutschlands 1990 gehört gewiss dazu. Auch der Zweite Weltkrieg von 1939 bis 1945, natürlich die 1933 beginnende Nazi-Ära insgesamt. Ereignisse, die in Geschichtsbüchern ein festes Datum haben oder einen exakt benennbaren Zeitraum. Anders verhält es sich mit der sogenannten Studentenbewegung. Oder sollte man besser von der 68er-Generation sprechen? Schon die unterschiedlichen Begriffe, die mehr oder weniger synonym verwendet werden, sind Ausdruck des Dilemmas: Diese prägende Epoche der (west)deutschen Nachkriegsgeschichte ist schwer auf den Punkt zu bringen.
Dass dieser Tage medial und in anderer Form ausführlich auf diese Zeit zurückgeblickt wird, hat mit einem besonders tragischen 50. Jahrestag zu tun. Am 2. Juni 1967 starb der 26-jährige Benno Ohnesorg. Erschossen von einem Polizisten in zivil. Der junge Germanistik-Student demonstrierte an diesem Tag vis-à-vis von der Deutschen Oper in Berlin gegen den Besuch des Schahs von Persien. Der in seiner Heimat tyrannisch regierende Herrscher wurde im freien Teil der damals durch eine Mauer geteilten Stadt hofiert - vom Berliner Senat, von Bundespräsident Heinrich Lübke und von der Boulevardpresse.
Der Protest begann schon viel früher
Für Benno Ohnesorg und viele seiner Kommilitonen war das eine weitere Provokation. Und provoziert fühlten sie sich schon lange. Wegen des anhaltenden Schweigens ihrer Eltern-Generation über deren Rolle in der NS-Zeit. Wegen des Vietnam-Kriegs der USA. Und - nicht zuletzt - wegen der Zustände im Bildungswesen. Schon ein Jahr vor Ohnesorgs Tod protestierten im Juni 1966 tausende Studenten der Freien Universität gegen die Einführung der befristeten Immatrikulation, die sie als "Zwangsexmatrikulation" empfanden.
Ihre Reaktion war ein "Sit-in" - eine Sitzblockade, die es so bislang nur an amerikanischen Hochschulen gegeben hatte. Es wurde eine Resolution verabschiedet, in der selbstbewusst von "Verwirklichung demokratischer Freiheit in allen gesellschaftlichen Bereichen" die Rede war. Blickwinkel und Anspruch gingen also weit über den rein akademischen Rahmen hinaus. Knut Nevermann war als Vorsitzender des Allgemeinen Studentenausschusses (AStA) maßgeblich an den Aktionen beteiligt. Nach dem Tod Ohnesorgs hielt er eine öffentliche Trauerrede - neun Minuten lang. Ein Satz lautete: "Er wurde getötet als einer von uns, die wir unsere Meinung äußern wollten."
"Unglaubliche Veränderung des politischen Bewusstseins"
Im Gespräch mit der Deutschen Welle sagt Nevermann ein halbes Jahrhundert später, der 2. Juni 1967 sei für ihn und seine Weggefährten eine "unglaubliche Veränderung des politischen Bewusstseins" gewesen. Dazu trug auch die Reaktion des Berliner Senats bei. Der machte die Studenten für den Tod ihres Kommilitonen verantwortlich. Der Regierende Bürgermeister Heinrich Albertz, ein Sozialdemokrat, verkündete im Radio: "Die Geduld der Stadt ist am Ende." Auch die vom Axel-Springer-Verlag dominierte Presse hetzte weiter gegen Studenten, die als "Störer" und "Krakeeler" diffamiert wurden.
Benno Ohnesorgs Todesschütze, der Polizist und erst 2009 als Stasi-Spitzel der DDR enttarnte Karl-Heinz Kurras, kommt ungeschoren davon. Er wird vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung freigesprochen, obwohl Aussagen von Augenzeugen eher eine vorsätzliche Tat vermuten lassen. Ein "vehementer Justizskandal", sagt Knut Nevermann auch 50 Jahre danach. Der 2. Juni 1967 habe ihn wie viele andere "richtig radikalisiert". Womit der inzwischen 73-Jährige in seinem Fall das Denken meint. Andere griffen nach Ohnesorgs Tod immer häufiger zu Steinen, die sie bei Demonstrationen auf Polizisten warfen.
Die nächsten Schüsse trafen 1968 Rudi Dutschke
Die nächste Stufe der Eskalation war das Attentat auf die Gallionsfigur der Studentenbewegung, Rudi Dutschke, im April 1968 in Berlin. Danach ging die protestierende Jugend endgültig getrennte Wege. Der moderate Teil entschied sich für eine akademische Karriere, der andere und viel kleinere für Gewalt und Terror. Aktivisten wie Nevermann traten den Marsch durch die Institutionen an und übernahmen später oft hohe Staatsämter. Die ideologisch Verblendeten gründeten Anfang der 1970er Jahre die nach Benno Ohnesorgs Todestag benannte "Bewegung 2. Juni". Später folgte die "Rote Armee Fraktion" (RAF).
Mit ihrem Terror forderten sie den Staat jahrelang bis aufs Äußerste heraus. Der reagierte mit Gesetzesverschärfungen und Isolationshaft für RAF-Anführer. Als negativer Höhepunkt gilt das Jahr 1977 mit mehreren Morden an hohen Repräsentanten aus Staat und Wirtschaft, darunter Generalbundesanwalt Siegfried Buback und seine Begleiter. Im selben Jahr nahmen sich die inhaftierten RAF-Terroristen Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe das Leben.
Vorlesungsreihe an der Freien Universität: "50 Jahre danach"
Wenn es um die positiven Auswirkungen der 68er-Generation geht, ist vor allem von der neuen Frauen- und Umweltbewegung die Rede. Die Partei der Grünen, 1980 gegründet, nennt Zeitzeuge Nevermann ein "Enkelkind" der Studentenbewegung. Er selbst ist seit 1965 SPD-Mitglied, sein Vater war Erster Bürgermeister in Hamburg, seine Schwester Anke Fuchs Bundesministerin. Nevermann stammt also aus einer durch und durch politischen Familie. Seine eigene berufliche Laufbahn endete 2014 als Staatssekretär für Wissenschaft in Berlin.
Aus Anlass des 50. Todestages von Benno Ohnesorg konzipierte der promovierte Jurist an der Freien Universität Berlin eine Vorlesungsreihe. Immer dienstags geht es das ganze Sommersemester über um Themen wie "Jugendrevolte und Bildungsungleichheit" oder "Dritte Welt. Moralische Dimension des Protests". Unter den Referenten sind namhafte Politologen, Soziologen und Kulturwissenschaftler wie Hajo Funke, Gesine Schwan oder Wolfgang Kraushaar. Dabei fällt eines besonders auf: Der Hörsaal mit gut 500 Plätzen ist stets gut besucht, manchmal sogar überfüllt - das Durchschnittsalter liegt allerdings bei über 60…
Ein Flugblatt, das aus dem Jahr 1967 stammen könnte
Die Studenten von heute, so scheint es, können mit der Studentenbewegung von damals nichts anfangen. Und den Namen Benno Ohnesorg haben viele von ihnen womöglich in diesen Wochen das erste Mal gehört. Weil so viel über ihn berichtet wird. Daraus zu schließen, die heutige Studentengeneration sei völlig unpolitisch, wäre jedoch falsch. Als Knut Nevermanns Vorlesungsreihe im April begann, wurde die FU kurzerhand für besetzt erklärt. Vor dem Hörsaal lagen Flugblätter mit Sätzen wie diesem: "Freiräume fehlen uns in der Stadt, in der Gesellschaft und gerade auch an der Universität." Klingt wie 1968, stammt aber aus dem Jahr 2017.