Belarus: Was wir über Maria Kolesnikowa wissen
5. Juni 2023Die Bürgerrechtlerin und Regierungskritikerin Maria Kolesnikowa wurde am 7. September 2020 in Belarus festgenommen. Am 6. September 2021 verurteilte das Gebietsgericht Minsk sie auf Grundlage von drei Artikeln des belarussischen Strafgesetzbuchs zu elf Jahren Haft. Ihr wurde unter anderem eine Verschwörung mit dem Ziel der Machtergreifung vorgeworfen. Am 28. November 2022 wurde Maria in einem kritischen Zustand aus der Strafkolonie Nr. 4 im Gomel auf die Intensivstation gebracht und dort operiert. Im Februar dieses Jahres brach der Kontakt ihrer Familie und Unterstützer zu ihr ab.
Ihre Schwester Tatjana Chomitsch ist Mitglied des Koordinierungsrates der belarussischen Opposition und Mitbegründerin des Verbands ehemaliger politischer Gefangener und deren Angehöriger. Der DW erzählt sie, was sie über Maria Kolesnikowa weiß und ob man politische Gefangene in Belarus freibekommen könnte.
"Sie hat die Operation sehr schlecht überstanden"
DW: Frau Chomitsch, wann haben Sie zuletzt mit Maria gesprochen?
Tatjana Chomitsch: Die bisher letzte Post von Maria ging am 15. Februar an meinen Vater, sie war sehr kurz, eine gewöhnliche Postkarte. Anfang Februar besuchte der Anwalt Maria, doch danach brach der Kontakt ab. Der bisher letzte Anruf erfolgte im November vergangenen Jahres. Dann wurde sie operiert und lag etwas mehr als einen Monat in einem Gefängniskrankenhaus. Dann konnte ich keinen Kontakt aufnehmen. Auch als sie das Krankenhaus verließ und wieder zur Arbeit musste, gab es keine Anrufe mehr.
Im Dezember, nach der Operation, konnte Ihr Vater noch zu Maria. Was hat er über dieses Treffen gesagt?
Es war ein kurzes Treffen von buchstäblich zehn Minuten, bei dem er mit ihr sprechen, sie berühren und umarmen konnte. In der ganzen Zeit seit ihrer Inhaftierung gab es keine derartigen Treffen - nur hinter Glas und nur eine Stunde. Es sollte mehrere solcher Besuche pro Jahr geben und sie sollten länger dauern, zwei oder drei Tage. Vater sagte, er habe gesehen, dass sie es nach der Operation schwer hatte. Sie hat viel Gewicht verloren, etwa 15 Kilogramm. Das Essen im Gefängnis bekam ihr nicht. Natürlich war Maria sehr berührt und erfreut, ihren Vater zu sehen.
Wie oft haben Sie früher mit Ihrer Schwester telefoniert?
Normalerweise maximal zwei Mal im Monat. Noch vergangenes Jahr konnten wir Videoanrufe durchführen - 2022 gab es sechs davon. Natürlich waren das glückliche, wenn auch kurze Momente. Doch im August 2022 wurde Maria gesagt, in der Strafkolonie dürfe sie solche Telefonate nicht mehr führen. Danach gab es noch ein paar Videoanrufe mit unserem Vater, aber dann brach die gesamte Kommunikation ab.
Wie hat die Gefängnisleitung diese Entscheidung begründet?
Es gab keine Erklärungen.
Was schrieb Maria in ihrem letzten Brief?
Wie immer schrieb sie uns, wir sollten uns keine Sorgen um ihre Gesundheit machen. Das ist typisch für Maria, sie versucht immer aufzumuntern, trotz allen Leids, das sie durchmacht. Sie schrieb auch, dass sie noch irgendwelche anderen Medikamente einnimmt. Sie schickte Grüße an alle Verwandten und Freunde und schrieb, dass sie alle immer in ihrem Herzen seien. Sie ermutigte sie, dass alles gut werden würde.
"Das ist echte Folter"
Haben Personen, die das Gefängnis in den vergangenen Monaten verlassen haben, etwas über Maria berichtet?
Im März gab es die Nachricht, dass Maria möglicherweise in einer Zelle unter verschärften Haftbedingungen festgehalten wird. Wer dort ist, arbeitet nicht. In der Regel kommt man für mehrere Monate dorthin, es können bis zu sechs Monate sein. Wenn die Person nicht arbeitet, hat sie minimalen Kontakt, sie sieht fast niemanden. Täglich sind maximal 30 Minuten für einen Spaziergang vorgesehen, der Geldbetrag, der im Laden für zusätzliche Lebensmittel ausgegeben werden kann, wird verringert. Sogar die Essensportionen, die solche Gefangenen erhalten, werden reduziert. Und dies ist sehr kritisch für Maria, insbesondere im Hinblick auf ihre Gesundheit.
Sie musste sehr schnell wieder zur Arbeit, am 10. Januar, etwas mehr als einen Monat nach der Operation. Sie braucht eine Diät. Ich habe mit den Ärzten gesprochen: Normalerweise muss man nach einer Operation wegen eines Magengeschwürs Medikamente einnehmen und eine spezielle Diät mit sehr weicher Nahrung einhalten. Marias Essen wurde überhaupt nicht auf sie abgestimmt. Jetzt braucht sie Lebensmittelpakete, aber wir können ihr nichts schicken, weil wir keinen Kontakt haben. Jüngst wurde berichtet, Marias Gesundheitszustand habe sich verschlechtert, aber es ist unklar, wie aktuell die Meldung ist.
Wodurch könnte das Geschwür hervorgerufen worden sein?
Ein Grund, den ich für wahrscheinlich halte, ist Stress. Soweit ich weiß, hatte Maria vorher keine Magenprobleme. Zuvor hatte sie zehn Tage in einer Einzelzelle verbracht. Die Bedingungen sind schrecklich, es ist sehr kalt und man kann nicht schlafen. Der Körper kann in einer solchen Situation auf jede erdenkliche Weise reagieren. Maria sagte, dass es ihr vor der Operation mehrere Tage schlecht ging, sie habe das Bewusstsein verloren, aber darauf habe die Gefängnisleitung nicht reagiert. Sie warteten so lange, bis es um Leben und Tod ging.
Die Gefängnisleitung behauptet, Maria stelle keine Anfragen für Besuche. Was steckt Ihrer Meinung nach dahinter?
Wir hören, dass es anderen politischen Gefangenen ähnlich ergeht - Viktor Babariko, Sergej Tichanowski, Maksim Snak, Ales Bjaljazki, Nikolaj Statkewitsch und Igor Losik. Die prominentesten politischen Gefangenen werden isoliert, um sie unter Druck zu setzen. Der Abbruch des Kontakts mit der Außenwelt, das ist echte Folter, das ist Druck auf sie, auf ihre Angehörigen. Andererseits, denke ich, ist dies ein Versuch, die Menschen so weit zu bringen, die Gefangenen zu vergessen und nicht mehr über sie zu reden. Aber das geht nach hinten los, wirft noch mehr Fragen auf und lenkt noch mehr Aufmerksamkeit auf ihre Lage.
"Wir dürfen nicht ihr Leben und ihre Gesundheit opfern"
Sie sind Mitglied im Verband ehemaliger politischer Gefangener und deren Angehöriger. Was gehört zu Ihren Aktivitäten?
Wir wollen vor allem auf die Lage der Gefangenen aufmerksam machen, damit sie freikommen. Fast drei Jahre des Kampfes sind vergangen und uns ist klar, dass wir den Fokus auf die Rettung und Befreiung der Menschen verlagern müssen. Wir stehen ständig in Kontakt miteinander, um zu sehen, wie sich die Situation verändert. Wir treffen uns auf internationaler Ebene mit Diplomaten aus verschiedenen Ländern. Eine unserer Hauptforderungen seit 2020 ist die Freilassung aller politischen Gefangenen, gleichzeitig ist eines unserer Ziele die Isolierung des Regimes. Das sind zwei Ansätze, die im Widerspruch zueinander stehen. Die Schlüssel zu den Gefängnissen liegen in den Händen des belarussischen Regimes. In dieser Situation muss alles getan werden, um die Menschen zu befreien. Wenn es nicht möglich ist, alle auf einmal freizubekommen, sollte man versuchen, sie in kleinen Gruppen freizubekommen, denn es gibt darunter schwerkranke Menschen. Jahre vergehen und wir dürfen nicht ihr Leben und ihre Gesundheit opfern.
Erst vor wenigen Tagen hatte Polen als Reaktion auf das Urteil gegen den Journalisten Andrzej Poczobut die Grenze für Lastwagen aus Belarus geschlossen [Der Journalist, der der polnischen Minderheit in Belarus angehört, war im Februar zu acht Jahren Straflager verurteilt worden. Das oberste Gericht in Belarus hatte die Berufung abgewiesen, Anm. d. Red.]. Ist das eine gute Strategie?
Man muss verschiedene Optionen ausprobieren und sehen, was funktioniert und was nicht. Die Verhängung solcher Sanktionen schafft auch Druck. Die wichtigste Aufgabe besteht darin, solche Hebel zu finden, die diesen Prozess in Gang setzen. Vielleicht ist es einerseits Druck und andererseits sind es Angebote.
Was sagen Sie zu der in Europa verbreiteten Kritik, die Menschen in Belarus würden selbst wenig unternehmen?
Ich denke, dass man in Belarus sein und die Lage dort verstehen muss, um das sagen zu können. Es ist sehr seltsam, die Menschen zu beurteilen, wenn man im Ausland ist und nicht jeden Tag am eigenen Leib erfährt, was dort passiert und unter welchen Bedingungen die Menschen leben.
Das Gespräch führte Volha Verasovich.