100 Tage populistisches Experiment in Italien
8. September 2018In Italien wird die populistische Regierung aus der "Fünf-Sterne-Bewegung" und der rechtsradikalen "Lega" nach den Parteifarben die "gelb-grüne" Koalition genannt. Die Zeitung "La Repubblica" stellt den "Gelb-Grünen" 100 Tage nach Amtsantritt ein eher bescheidenes Zeugnis aus. "Die Wahlversprechen blieben Ankündigungen" titelte die Zeitung. Luigi di Maio, Chef der Fünf Sterne, ist Minister für Wirtschaftswachstum und Arbeit. Matteo Salvini, Anführer der Lega, ist Innenminister. Außerhalb Italiens wurde hauptsächlich Salvini mit seiner rüden Wende in der Migrationspolitik wahrgenommen. Er schloss die Häfen für private Rettungsorganisationen, die Schiffbrüchige aus dem Mittelmeer gefischt hatten. Am Ende verweigerte er selbst einem Schiff der italienischen Küstenwache, der "Diciotti", die Einfahrt in einen italienischen Hafen. Als das Schiff nach massiver Kritik auch in Italien dann doch in Sizilien anlegen konnte, durften die Migranten das Schiff nicht verlassen. Erst nach der von EU-Staaten, Albanien und der katholischen Kirche erpressten Zusage, sich um die Menschen zu kümmern, gab Matteo Salvini nach.
Druck auf die EU bei der Migration
Sein Ziel ist es, "überhaupt keine Migranten" mehr nach Italien zu lassen, wie er der Deutschen Welle in einem Interview am vergangenen Sonntag noch einmal bestätigte. Die EU in Brüssel zeigt sich irritiert über den Kurs der populistischen Regierung. Erpressung sei kein Mittel der Politik in der EU, hieß es vom Sprecher der EU-Kommission. Matteo Salvini kümmert das nicht weiter. Er präsentiert sich als Macher und schmiedet mit Populisten und Migrationsgegnern in Ungarn und Österreich neue Bündnisse. Zustimmende Worte fand Salvini im DW-Interview auch für die deutsche Regierung, die ja nach wie vor an einer Umverteilung von Migranten aus Italien in den Rest der EU eintritt. Mitte Juli einigten sich Salvini und der deutsche Innenminister Horst Seehofer (CSU) in Innsbruck auf einen neuen "Pakt" zur Abwehr von illegalen Migranten an den Außengrenzen. Ein angekündigtes Abkommen mit Italien zur Rücknahme von Migranten, die an der bayrischen Grenze zurückgewiesen werden sollen, ist aber bis heute nicht zustande gekommen.
Ein Bündel an sozialen Wohltaten
In Italien selbst versucht Luigi di Maio mit seiner Agenda zu punkten. Er kündigte die Rücknahme von Reformen an, die die sozialdemokratische Vorgänger-Regierung durchgesetzt hatte. Der Kündigungsschutz für italienische Arbeitnehmer soll wieder verschärft werden. Die Zahl befristeter Arbeitsverträge soll gesenkt werden. Alle anderen Versprechen, wie ein Grundeinkommen für alle ärmeren Italiener, eine einschneidende Steuerreform mit einem einheitlichen Steuersatz, eine Rentenreform und die Rücknahme der angekündigten Mehrwertsteuer-Erhöhung sollen im Haushaltsgesetz für nächstes Jahr stehen. Das wird die gelb-grüne Koalition Ende September vorlegen. Einzelheiten zu diesem Haushaltsentwurf sind noch nicht bekannt.
Die Nachrichtenagentur "Bloomberg" hat ausgerechnet, dass die Versprechen sich auf 100 Milliarden Euro addieren. Wie das genau finanziert werden soll, wird der Haushalt zeigen, kündigte Matteo Salvini im DW-Interview an. Er erklärte Italien kurzerhand für unabhängig von den Finanzmärkten, was aber in der Realität nicht stimmt. Zur Finanzierung seiner hohen Staatsschulden von 130 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ist Italien auf private Geldgeber und Banken angewiesen. Fünf-Sterne-Chef Luigi di Maio stellte in Aussicht, dass die Defizit-Kriterien der Europäischen Union notfalls nicht eingehalten würden. Die Finanzmärkte reagierten auf die Aussage mit einer Verteuerung der italienischen Staatsschulden. Inzwischen wurden die ehrgeizigen Pläne wieder etwas abgeschwächt. Matteo Salvini sagte in einem weiteren Interview, man müsse ja nicht alles auf einmal machen. Die Finanzmärkte entspannten sich etwas.
Und wo ist der Regierungschef?
Die Zeitung "La Repubblica" spricht von einer "Flut von Ankündigungen" in den ersten 100 Tagen, die nun abgearbeitet werden müssten. Hinzu kam noch der Kollaps der Autobahnbrücke bei Genua. Diese Katastrophe und das Versagen der staatlichen Aufsicht zuvor hat zu einer intensiven Diskussion darüber geführt, ob die privatisierten Autobahnen nicht wieder verstaatlicht werden müssten, und welche Kosten dabei entstehen könnten. Die populistische Regierung sträubt sich außerdem dagegen, die marode Stahlfirma Ilva an den indisch-europäischen Konzern Arcelor-Mittal zu verkaufen. Ob der Staat einspringt, um die Firma zu retten, ist unklar.
Der italienische Ministerpräsident Giuseppe Conte, der parteilos ist und sich als "Anwalt aller Italiener" versteht, hält sich hinter den beiden Parteivorsitzenden im Hintergrund. Die Zusammenarbeit sei aber gut, man sei ein Team, versicherte Conte in einem Interview aus Anlass der ersten 100 Tage der "Huffington Post": "Wir gehören nicht zum alten System."
Giuseppe Conte war in Brüssel vor allem durch seine Forderung aufgefallen, die Migration nach Italien zu stoppen. Bei einem Gipfeltreffen im Juni setzte der Professor durch, dass die EU die Einrichtung von Migrationszentren in Mittelmeer-Ländern und in Nordafrika ankündigte. Konkret geschehen ist aber bislang nichts. Die EU hat allerdings auf Drängen Italiens die Seenotrettung vor der libyschen Küsten eingestellt und der libyschen Regierung übergeben, die nur einen Teil des Landes kontrolliert. Hilfsorganisationen und auch das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen sehen dieses Vorgehen kritisch.
"Sie sind ahnungslos"
Das Urteil des Politik-Experten Maurizio Ferrara von der Universität Mailand zum Vorgehen der gelb-grünen Populisten in ihren ersten 100 Tagen ist wenig schmeichelhaft: "Sie hatten eigentlich keine Ahnung, wie man regiert, und gingen völlig unvorbereitet an die Arbeit. Bislang haben sie ihre Zeit hauptsächlich damit zugebracht, ihren Wahlkampf fortzusetzen", sagte Ferrara der DW. Die Regierung in Rom sieht sich selbst als Regierung des Wandels, die Revolutionen versprochen hat. Ende September, wenn der Haushalt 2019 vorliegt, weiß man mehr.