100 Jahre ILO: Noch nicht am Ziel
10. April 2019Eigentlich, sagt Benjamin Luig, hätten südafrikanische Arbeiter seit dem Ende der Apartheid klar definierte Rechte. Doch für viele Landarbeiter auf den Zitrus- und Weinplantagen im Westen und Süden des Landes sehe der Alltag häufig anders aus. "Der Arbeitsschutz ist nicht gewährleistet, es gibt willkürliche Lohnabzüge und die sozialen Beziehungen zwischen den Managern der Farmen und Arbeitern haben oft kolonialen Charakter. Viel läuft über Druck und Androhung, denn die Arbeiter leben dort mit ihren Familien und sind damit in einem abhängigen Verhältnis", so Luig, der in Johannesburg als Programmleiter für die Rosa-Luxemburg-Stiftung arbeitet.
"Ich war kürzlich auf einer Zitrusfarm, einer hochschwangeren Arbeiterin dort wurde der gesetzliche Mutterschutz verwehrt. Viele Wellblechhütten, in denen die Arbeiter leben, standen nur drei oder vier Meter von den Feldern entfernt, auf die hochgiftige Pestizide aufgebracht werden", berichtet Luig. Und er fügt an: "Da hilft auch die beste Zertifizierung der Produkte nichts."
Ein Grund für die schlechten Arbeitsbedingungen: Die Produzenten stünden unter großem Druck - auch durch den europäischen Markt. "Die Supermärkte am Ende der Lieferkette bestimmen den Preis", sagt Luig. Umso wichtiger sei es deshalb, dass es mehr und umfassendere staatliche Kontrollen gäbe, mehr Training und Förderung für Gewerkschaften. Luig nimmt dabei auch die UN-Organisation in die Pflicht, die sich die Themen soziale Gerechtigkeit und menschenwürdige Arbeitsbedingungen auf die Fahnen geschrieben hat: die Internationale Arbeitsorganisation (ILO).
100 Jahre Internationale Arbeitsorganisation
Diesen Donnerstag (11.4.2019) feiert die ILO ihren 100. Geburtstag. Von Anfang an war ihr Vorhaben so visionär wie ambitioniert: Regierungen, Arbeitgeber und Gewerkschaften sollten in der ILO gemeinsame, internationale Standards für die Arbeitswelt festlegen - und gleichzeitig deren Einhaltung sicherstellen. Dass sich Unternehmens- und Regierungsvertreter überhaupt darauf einließen, dass Thema soziale Gerechtigkeit fest im neu gegründeten Völkerbund zu verankern, war den Umständen nach dem ersten Weltkrieg zu verdanken: Im Schatten der russischen Oktoberrevolution von 1917 gewannen Arbeiterbewegungen überall an Einfluss. Ohne Zugeständnisse an die Gewerkschaften war an Frieden in Europa nicht zu denken.
Tatsächlich könne die ILO auf einige wichtige Errungenschaften und Verbesserung zurückblicken, sagt Benjamin Luig und erinnert an die Durchsetzung des Rechtes auf Vereinigungsfreiheit in der Landwirtschaft bereits 1921. "Im Verlauf des 20. Jahrhunderts waren die ILO-Konventionen, die Arbeitsrechte eindeutig definiert haben, gerade in der Landwirtschaft wegweisend", erklärt er. Doch im Agrarsektor habe die ILO in den 1990er Jahren dann ihre Programme heruntergefahren.
Luig kritisiert zudem, dass die ILO ihre Arbeit damals auf eine vage "decent work"-Agenda ausgerichtet habe, die dem neoliberalen Mainstream und dessen Einschnitten bei Arbeitsrechten und Sozialsystemen wenig entgegen gehalten habe. Allerdings: "In den vergangenen zehn Jahren versucht die ILO wieder deutlich stärker, Arbeiterinnen und Arbeiter im ländlichen Raum durch Trainingsprogramme zu unterstützen", sagt Luig. Dafür erhalte die Organisation allerdings von ihren Mitgliedsstaaten, auch von Deutschland, zu wenig Mittel.
Zukunft der Arbeit organisieren
Die ILO selbst will zu ihrem 100. Jubiläum nicht nur zurückblicken, sondern vor allem nach vorne. Mit ihrer Initiative "Zukunft der Arbeit" will die UN-Organisation Veränderungen in der Arbeitswelt sozial gerecht gestalten - auch in Afrika, sagt Peter van Rooij, Direktor des ILO-Büros in Nigeria. "Die Jugendarbeitslosigkeit ist eine große Herausforderung. Afrika ist ein junger Kontinent und Ausbildung ist wichtig", erklärt van Rooij im DW-Interview. Um den Jugendlichen eine Perspektive bieten zu können, gebe es noch viel zu tun. "Immer mehr Jugendliche erhalten keine Jobs, wenn sie auf den Arbeitsmarkt strömen." Eine Folge: Auf der Suche nach Jobs verlassen immer mehr junge Menschen ihre Heimatländer, die Zahl der Arbeitsmigranten nimmt zu.
"Wir müssen konkreter mit der Industrie und den Zielländer der Migranten zusammenarbeiten", betont van Rooij. Nicht zu vernachlässigen seien dabei die Qualifikationen der Migranten, die müssten auch in anderen Ländern anerkannt werden. Die Jugend sei das Kapital des Kontinents, daher wolle die ILO das junge Potential breiter unterstützen - etwa mit Unterstützung für diejenigen, die sich selbständig machen möchten.
Sozialer Schutz auch für Migranten
Auch beim sozialen Schutz stellt die zunehmende Arbeitsmigration die ILO vor neue Herausforderungen. So sind etwa laut dem äthiopischen Arbeits- und Sozialministerium zwischen 2008 und 2013 rund 460.000 Menschen von Äthiopien in Länder wie Saudi-Arabien, Kuwait, Katar oder die Vereinigten Emirate abgewandert - die große Mehrzahl davon Frauen, die in diesen Ländern als Hausangestellte arbeiten. Untersuchungen der ILO dokumentieren, dass viele der Migrantinnen unter schlechten Arbeitsbedingungen leiden und keinerlei soziale Absicherung haben.
Dabei sehen die ILO-Abkommen für Arbeitsmigranten die gleichen Rechte vor wie für einheimische Arbeitnehmer: bei der der Vergütung, bei Sozialleistungen und beim rechtlichen Schutz, zum Beispiel im Krankheitsfall oder bei der Mutterschaft. Um diese Vorgaben umzusetzen, nimmt die ILO gezielt Einfluss auf politische Entscheidungsträger und unterstützt Projekte, die die Bedingungen vor Ort verbessern wollen.
Auch 100 Jahre nach ihrer Gründung bleiben die Aufgaben der ILO ambitioniert. Immer noch klaffen vielerorts große Lücken zwischen den festgelegten Normen, ihrer Übertragung in nationale Gesetzbücher und der Realität. "Es hat viele positive Veränderungen gegeben", sagt ILO-Mann van Rooij mit Blick auf das vergangene Jahrhundert. Doch er fügt hinzu: "Es gibt auch noch viel zu tun."