100 Jahre bis zur Chancengleichheit
17. Dezember 2019Gender gap - so heißt heute die Kluft zwischen Männern und Frauen auf lebenswichtigen Feldern wie Gesundheit, Bildung, in der Politik und Wirtschaft. Das World Economic Forum (WEF) untersucht Jahr für Jahr, wie weit diese Lücke bei den Geschlechterchancen in den Ländern der Welt geschlossen ist. Das kann man in Prozent angeben. Spitzenreiter: Island - hier ist die Geschlechterkluft zu gut 87 Prozent geschlossen. Für Deutschland - auf Platz 10 - sind es 78,7 Prozent und damit etwa weniger als Ruanda.
Folgt man den Berechnungen des WEF, wird es aber weltweit noch genau 99,5 Jahre dauern, bis Frauen und Männer wirklich gleichgestellt sind, wenn es im jetzigen Tempo weitergeht.
Im letzten Jahr stand es um diese Geschlechterkluft noch schlimmer. Die Fortschritte haben viel damit zu tun, dass immer mehr Frauen in politische Führungspositionen aufsteigen - in Europa steht an der Spitze der EU-Kommission eine Frau (Ursula von der Leyen), Christine Lagarde trat ihr Amt als EZB-Präsidentin an, in Finnland sind alle Spitzen der Regierung und der sie tragenden Parteien Frauen, in Deutschland sind 40 Prozent aller Ministerposten im Bund und den Ländern mit Frauen besetzt, und Angela Merkel ist seit vielen Jahren Bundeskanzlerin.
Kaum Frauen in den Vorständen
Geht es in der Politik (in Europa) sichtbar voran, so sind in der Wirtschaft in Deutschland die Unterschiede zwischen Männern und Frauen weiter sehr groß. Immerhin gibt es seit Oktober zum ersten Mal eine Frau an der Spitze eines Dax-Unternehmens: Jennifer Morgan ist jetzt Co-Chefin von SAP. Aber sie ist nur eine unter den Bossen von 30 Konzernen, die im wichtigsten deutschen Börsenindex versammelt sind. In den Vorständen von börsennotierten Firmen in Deutschland liegt der Anteil der Frauen nach einer Zählung der Unternehmensberatung EY bei 8,7 Prozent. Das heißt, 640 der 701 Vorstandsmitglieder in Dx, MDax und SDax sind männlich.
"Wenn die Zahl der Frauen in den Vorstandsgremien weiter so langsam steigt wie im ersten Halbjahr dieses Jahres, wird es bis zum Jahr 2048 dauern, bis ein Drittel der Vorstandsposten mit Frauen besetzt ist", warnte EY-Experte Markus Heinen in diesem Sommer. Das Bild ist schon in den Ländern Europas sehr unterschiedlich, und weltweit sind die Abstände zum Teil gigantisch. In Russland etwa gibt es auf der Führungsebene der Unternehmen nur sieben Prozent Frauen - in Frankreich dagegen sind es mehr als 43 Prozent.
Für Vorstände gibt es in Deutschland keine gesetzliche Frauenquote - anders als für die Aufsichtsräte. Seit 2016 gilt hier eine Frauenquote. Plätze, die frei werden, müssen mit Frauen besetzt werden, bis der Anteil bei 30 Prozent liegt. Nach einer Zählung der der Organisation Frauen in die Aufsichtsräte (Fidar) war Ende Oktober diese Quote überschritten. Im Schnitt fast jeder dritte Aufsichtsratsposten in den 186 größten börsennotierten deutschen Unternehmen war mit einer Frau besetzt.
Spitzenfrauen verdienen mehr
Sind Frauen erst einmal auf der Ebene der Vorstände angekommen, verdienen sie oft mehr als ihre männlichen Kollegen. Auch das hat EY berechnet: Danach liegt der Unterschied hier derzeit bei 26,7 Prozent oder im Schnitt rund 120.000 Euro jährlich - zugunsten der Frauen. Spitzenmanagerinnen seien vor allem bei den Dax-Konzernen beliebt, heißt es zur Begründung. Aber es gibt eben erst wenige Frauen auf dieser Ebene, deshalb steigt ihr 'Marktwert'.
Rückschritte aber gibt es in vielen Ländern auf dem breiteren Arbeitsmarkt, dort also, wo es nicht um die Spitzenjobs geht. Denn hier nimmt laut WEF-Studie die finanzielle Ungleichheit in umgekehrter Richtung zu.
Sehr viele Analphabetinnen
Die Studie nennt dafür drei Hauptgründe: Frauen haben häufig eine Arbeit, die zunehmend Roboter übernehmen, zu wenige Frauen wählen Berufe, in denen die Löhne stark steigen, und Frauen tragen nach wie vor die Hauptlast bei der Erziehung und bei der Pflege Angehöriger. Außerdem haben sie nach wie vor Probleme, an Kapital zu kommen.
Ohnehin haben weltweit lediglich gut die Hälfte (55 Prozent) der erwachsenen Frauen einen Job - bei den Männern sind es laut WEF mehr als drei Viertel (78 Prozent). Besonders besorgniserregend aber ist diese Zahl: Weltweit sind zehn Prozent der Mädchen und jungen Frauen im Alter von 15 bis 24 Jahren laut WEF Analphabeten. Und das ist ein Durchschnittswert, in einzelnen Ländern liegt die Zahl sehr viel höher.
ar/hb (dpa, afp – EY, WEF)