„Debatte über das Miteinander führen“

#AllianzWeltoffenheit: „Es wäre schön, wenn einfach mal wieder der gesunde Menschenverstand in manche Redaktionen einkehren würde.“ DW-Intendant Peter Limbourg über „Flüchtlinge und Medien“.

Peter Limbourg auf der CIVIS Medienkonferenz 2016
Peter Limbourg auf der CIVIS Medienkonferenz 2016Bild: CIVIS/Ziebe

Der Intendant sprach auf der CIVIS Medienkonferenz „Das neue WIR. Deutschland verändert sich“ am 13. Januar in Berlin. Die viel beachtete Keynote im Wortlaut:

Wer in diesen Tagen zum Thema Flüchtlinge und Medien sprechen soll, der kommt an den Geschehnissen der Silvesternacht in Köln nicht vorbei. Und auch nicht an der Berichterstattung darüber. Denn es zeigt sich in den Berichten und Kommentaren vielerorts vor allem eines: eine tiefe Verunsicherung. Da geht es den Medien offensichtlich nicht besser als der deutschen Gesellschaft.

„Wie sollen wir über das Thema Flüchtlinge berichten?“ – Ja, die Frage eines großen öffentlich-rechtlichen Mediums über Twitter an seine Follower kurz nach den Geschehnissen am Hauptbahnhof war mindestens ungeschickt. Aber insgeheim fragen sich das wohl viele Kolleginnen und Kollegen. Zu aufgeheizt scheint die Stimmung, nicht nur in den Leserkommentaren der journalistischen Angebote.

Berichten wie über jedes andere Thema auch

Es gibt außerdem bei manchen Kolleginnen und Kollegen offensichtlich den verstärkten Hang eines gewissen „Erziehungsbewusstseins“ für die eigenen Leser, Zuschauer oder Zuhörer. Nur nicht den rechten Hetzern in die Hände spielen, die Stimmung für Flüchtlinge nicht verschlechtern. Das ist zwar sicherlich gut gemeint aber – das ist aber sicher nicht gut. Der richtige Ansatz liegt doch in den Grundregeln unseres Berufszweiges begründet. Wir Medien sollten über Flüchtlinge berichten wie über jedes andere Thema auch. Das klingt so einfach, ist aber offenbar schwer. Medien müssen die Fakten herausfinden und aufzählen. Sie dürfen, auch wenn es gegen die eigene Meinung oder um ein angeblich höheres Ziel geht, nichts verschweigen.

Informieren, Angebote machen: Frauen in Flüchtlingsunterkünften
Informieren, Angebote machen: Frauen in Flüchtlingsunterkünften Bild: picture-alliance/dpa/W. Kumm

Leider gehört es immer noch zur gängigen Praxis unseres Berufsstandes, der jeweils aktuell durchs Dorf getriebenen Sau hinterherzulaufen. Etwas überspitzt, stellte sich die mediale Grundhaltung in etwa so dar: Am Anfang waren alle Flüchtlinge gut, unsere europäischen Nachbarn allesamt herzlose, unsolidarische Gesellen und Skeptiker waren schnell in die rechte Ecke gedrängt.

Gesunden Menschenverstand bemühen

Und heute, nach Köln, ist alles anders. Plötzlich werden kulturelle Unterschiede großgeschrieben. Der Flüchtling „an sich“ ist plötzlich nicht mehr der einzelne Mensch, nicht mehr Teil der Flüchtlingswelle oder der Flüchtlingskrise – jetzt ist er Teil – des Sex-Mobs!

Es wäre schön, wenn einfach mal wieder der gesunde Menschenverstand in manche Redaktionen einkehren würde.

So ekelig und entwürdigend die Straftaten in Köln, Hamburg und anderen Städten waren: Selbst wenn alle Täter Flüchtlinge gewesen wären, wären das nicht einmal 0,5 Prozent der 2015 nach Deutschland gekommenen Flüchtlinge.

Damit will ich das Problem nicht verkleinern – aber in die Balance bringen. Wer sich mit der arabischen Welt beschäftigt, weiß, dass dort gerade in den sozial schwachen Schichten ganz andere Vorstellung über Frauenrechte, Gewaltfreiheit und Toleranz herrschen.

Also muss man als verantwortlicher Journalist gerade auch die Probleme in der Flüchtlingspolitik offen benennen und Ängste ernst nehmen. Natürlich gibt es zwischen den Flüchtlingen ethnische und religiöse Spannungen. Es gibt sexuelle Übergriffe. Es gibt Flüchtlinge, die ihre Religion über deutsche Gesetze stellen. Im großen Strom gibt es auch Kriminelle oder politische Extremisten, die die Hilfsbereitschaft Deutschlands ausnutzen und hier ein neues Betätigungsgebiet sehen. Das ist einfach so bei der Riesenzahl der hier seit Sommer eintreffenden Schutzsuchenden. Es ist kaum zu verhindern. Es ist aber selbstverständlich nicht die Regel. Trotzdem muss man dem Rechnung tragen. Also: Junge Männer, die Schwierigkeiten mit unseren Grundregeln haben und bleiben wollen, müssen sich umstellen – gern freiwillig, aber notfalls auch gezwungen.

Kein mediales Blendwerk transportieren

Das jetzt überall über schnelle Abschiebung geschrieben und gesendet wird, ist auch so ein mediales Blendwerk – gezündet von Politikern und gern transportiert von Journalisten. Das mag in Einzelfällen ja helfen, aber wohin wollen Sie denn einen straffällig gewordenen jungen Syrer ohne Papier abschieben? Nach Homs, Damaskus oder Aleppo? Auch hier bieten sich Differenzierung und ein Blick ins Gesetz an, um nicht noch mehr Verunsicherung zu schüren.

Was also wird geschehen? Polizei und Justiz werden konsequenter und härter agieren müssen, um ernster genommen zu werden. Das ist richtig, wird uns Journalisten aber auch nicht von der Aufgabe entbinden, genau hinzuschauen, ob dann legale Härte und Willkür vermischt werden.

Auch gegenüber dem Ausland nichts verschweigen

Wir haben im Übrigen ja nicht nur ein Problem mit jungen Männern aus dem arabischen Raum. Denn es gilt natürlich im selben Maß auch für junge deutsche Männer, die als Rechtsradikale Flüchtlinge angreifen oder ihre Unterkünfte in Brand stecken. Deutschland hat ein wachsendes Problem mit dem rechten Rand. Wir dürfen das nicht verschweigen. Auch nicht gegenüber dem Ausland.

Kritisch und bei der arabischen Jugend sehr beliebt: DW-Sendung Shababtalk mit Jaaafar Abdul Karim
Kritisch und unverblümt - und bei der arabischen Jugend sehr beliebt: DW-Sendung Shababtalk mit Jaaafar Abdul Karim Bild: DW/M. Müller

Dort gelten die Kölner Übergriffe und ihr Umgang damit übrigens längst als Stresstest der deutschen Flüchtlingspolitik. Überhaupt war man international verwundert über die große deutsche Hilfsbereitschaft und das hohe private Engagement. Andere Länder, auch in Europa, betrachten unsere Bemühungen eher skeptisch und befürchten das Scheitern. Meine Erfahrungen auf Reisen gehen von „Großartig, was Ihr Deutschen da macht“ bis „Jetzt seid ihr endgültig verrückt geworden“.

Für die Debatte hierzulande ist es allemal besser, Fehler seitens der Politik und der Medien offen zuzugeben. Deutschland hat sich jahrelang für das Thema Flüchtlinge wenig interessiert, es war weit weg. Nach dem Motto: „Was haben denn wir mit den Dramen auf Lampedusa und Lesbos zu tun? Sollen Italiener und Griechen ihre Probleme mal schön alleine lösen.“ Mit Reportagen aus den Flüchtlingslagern in der Türkei, Jordanien oder dem Libanon kam man vor einem Jahr nur schwer ins Blatt oder auf Sendung.

Unterschiedliche Herkunft als Bereicherung sehen

Und bei uns: Integration der neu Aufgenommenen wurde nicht eingefordert, mit der teilweise existierenden Parallelgesellschaft hatten wir uns abgefunden. Leitkultur war für die meisten Kollegen ein Unwort. Und es gab auch nicht genügend Angebote zur Integration – das gilt auch für die meisten deutschen Medien. Jahrzehntelang hatte doch jemand mit dem Vornamen Mohamed oder Ayse keine Chance bei den Inlandsmedien. Das hat sich in den vergangenen Jahren verbessert, aber es ist noch ein langer Weg vom „Quoten-Migranten“ zum „ganz normalen“ Kollegen.

Ich kann aus eigener Erfahrung als Intendant der Deutschen Welle nur unterstreichen, wie bereichernd die Arbeit mit Journalisten aus unterschiedlichen Kulturen ist. Wir haben sicherlich keine heile Welt, aber bei uns wird Integration gelebt – auch weil man aufeinander zugeht und zusammenarbeiten will. Es wäre schön, wenn dieser Ansatz auch in Deutschland stärker wahrgenommen würde. Ja, Integration heißt zunächst einmal Anpassung an die Regeln des Gastlandes – aber es heißt auch Offenheit für Neues von Seiten der Gastgeber. Wir müssen weiter offen bleiben, Angebote machen. Und wir müssen eine große gesellschaftliche Debatte über das wirkliche Miteinander der Kulturen, der Religionen und ihr Verhältnis zum Staat führen.

Moderiert DW-News: Sumi Somaskanda
Moderiert DW-News: Sumi Somaskanda

Die übergroße Zahl der Flüchtlinge drängt uns alle diese Fragen jetzt auf. Gleichzeitig bekommen wir die Konsequenzen unserer Fehler und Versäumnisse zu spüren. Natürlich sind wir damit überfordert. Aber das darf kein Dauerzustand sein. Auch nicht in den Medien.

Die Berichterstattung hat sich, wie bereits erwähnt, spürbar verlagert. Die internationalen Gründe für die Flüchtlingsströme werden kaum noch diskutiert. Einzelschicksale oder Berichte über die gefährlichen Wege nach Europa finden sich in den deutschen Medien kaum noch. Es scheint alles erzählt. Wir sind wieder bei der reinen Nabelschau angelangt, die jahrelang den Blick verengt hat.

Das ganze Bild im Kopf behalten

Ich halte das für gefährlich. Weiter über Fluchtgründe zu berichten, über gute und schlechte Entwicklungen, über individuelle Erfolge oder Misserfolge bei der Integration – das wird nötig sein, damit wir das ganze Bild im Kopf behalten. Flüchtlinge sind zunächst einmal Menschen: Opfer von Konflikten, Krieg und Terror. Und ja: Auch bittere Armut ist für viele ein Motiv, sich auf den Weg zu machen. Sie brauchen unsere Hilfe. Wir sollten uns davor hüten, ausschließlich über unsere deutschen Probleme nachzudenken. Internationale und vor allem europäische Zusammenarbeit, auch das Wissen um die Situation in anderen Aufnahmeländern, kann uns hier in Deutschland helfen.

Gegenseitiges Wissen voneinander und übereinander ist auch der einzige Weg für wechselseitiges Verständnis.

Wer Integration fordert, muss Teilhabe anbieten

Das gilt übrigens auch für Deutschland und seine Flüchtlinge. Die Möglichkeit zum Zugang zur Gesellschaft, unsere offene Hand, ist die allergrößte Aufgabe beim Thema Flüchtlinge. Wenn wir Integration fordern, müssen wir Teilhabe anbieten. Sie muss auch über die Medien geschehen. Dazu müssen wir uns aber die Mediennutzung genau ansehen: Die beginnt bei Schutzsuchenden schon in ihrem Heimatland, in ihrer Sprache. Dazu kommt die intensive Suche über die Sozialen Medien nach Erfahrungen anderer auf dem Weg nach Europa. Auf der Flucht selbst ist das Smartphone das einzige Kommunikationsmittel – also brauchen wir ausreichend mobile Angebote. Im Gastland selbst braucht es zunächst ebenfalls auf die Nutzer zugeschnittene, partizipative und Grundlagen schaffende Angebote, die sich ergänzen. Und ebenso die technischen Möglichkeiten für den Zugriff darauf. Ich wünsche mir noch mehr Telekommunikationsunternehmen, die im Zuge ihres gesellschaftlichen Engagements Not- und Zwischenunterkünfte so ausstatten, dass bereits dort Medienangebote genutzt werden können – Information, Unterhaltung, Sprachkurse. Zeit dafür haben Flüchtlinge dort wirklich genug.

Flucht und Migration global: Wir öffnen die Perspektive - lesen Sie mehr in der aktuellen Weltzeit
Flucht und Migration global: Wir öffnen die Perspektive - lesen Sie mehr in der aktuellen Weltzeit Bild: DW

Alle diese beschriebenen Informationswege müssen dauerhaft angelegt werden, die Angebote müssen zudem vertrauenswürdig sein, kompetent und dialogfähig. Den letzten Punkt möchte ich dabei besonders hervorheben. Nur wenn Flüchtlinge einen Bezug zu ihrer Situation sehen, wenn sie eigene Erfahrungen und Wünsche einbringen können, werden die Anbieter dauerhaft erfolgreich sein.

Informationen und Bildungsangebote für Flüchtlinge erhöhen

Die Deutsche Welle hat schon seit dem Frühjahr 2015 ihre Angebote entsprechend ausgebaut und verzeichnet damit ständige hohe Nutzerzuwächse. Nachdem mancher in der Politik in der Vergangenheit unsere fremdsprachigen Angebote als „nice-to-have“ verstanden hat, brachte die internationale Flüchtlingskrise vielen wieder ins Bewusstsein, dass wir in 30 Sprachen multimedial und unabhängig Informationen aus und über Deutschland vermitteln. Unsere Entscheidung, seit Mitte Dezember 2015 unser erfolgreiches arabisches TV-Programm auch nach Europa auszustrahlen und sukzessive in allen unseren Sprachangeboten den Anteil der Informationen und Bildungsangebote für Flüchtlinge zu erhöhen, steht in diesem Zusammenhang. Ebenso wie die neue DW-App für Smartphones, die weltweit inzwischen über eine Million Downloads hat und ebenfalls in allen DW-Sprachen aufgestellt ist. Verzeihen Sie mir bitte diese kleine Eigenwerbung, sie ist gut begründet.

Ich würde mir weitere Unterstützung bei unseren Bemühungen wünschen. Ich habe deshalb die öffentlich-rechtlichen Sender, private Anbieter und europäische Partner eingeladen, sich mit geeigneten Angeboten an unserem arabischen Kanal für Europa zu beteiligen. Mit der Bundesanstalt für Arbeit haben wir für den Ausbau unserer Deutschkurse dankenswerterweise schon einen starken Partner gefunden, um den Menschen mit der für sie neuen Sprache auch Zugang zu Gesellschaft und Arbeitsmarkt zu ermöglichen.

Friedland-Präsentation: Peter Limbourg und Ines Pohl
Kooperation gefragt: DW und NDR stellten Film zu Friedland vor; Peter Limbourg und Ines Pohl Bild: DW

Eigenanalyse ist anstrengend – aber auch produktiv

Alle diese beschriebenen Herausforderungen für die Medien werden 2016 sicher nicht geringer werden. Jede schlechte Nachricht kann die innenpolitische Diskussion verschärfen und das Klima weiter aufheizen. Die innenpolitische Diskussion nach Köln liefert einen Vorgeschmack, was in den anstehenden Wahlkämpfen zu erwarten ist. Und die vielen internationalen Äußerungen machen klar, wie genau der deutsche Weg in der Flüchtlingsfrage in diesem Jahr beobachtet werden wird. Dabei sind auch Deutschlands politische Möglichkeiten begrenzt. Jede internationale Entwicklung kann die Zahl der Schutzsuchenden weiter erhöhen – und den Druck auf Europa damit auch.

Sicher ist jetzt schon, dass die Flüchtlinge Deutschland verändern werden. Die Diskussion über sie zwingt uns auch zur Diskussion über uns selbst und unsere Vorstellungen von der deutschen Gesellschaft. Das ist unbequem und manchmal gewiss sehr anstrengend. Aber es kann auch ungemein produktiv sein. Denn in der Eigenanalyse, der Frage des Miteinander und der Diskussionskultur, hat Deutschland deutlichen Nachholbedarf. Welches Bild unserer Gesellschaft wollen wir zukünftig bieten? Welche Möglichkeiten räumen wir uns und anderen ein? Welche Weichen stellen wir für unsere Zukunft?

Gerald Asamoah, Katarina Witt, Enissa Amani, Abdelkarim und DW-Redakteur und Moderator Jaafar Abdul-Karim bei der DW-Aktion Wir sind Deutschland
Unterstützer der DW-Aktion „Wir sind Deutschland“: Gerald Asamoah, Katarina Witt, Enissa Amani, Abdelkarim und DW-Moderator Jaafar Abdul-Karim Bild: DW/Müller

Orientierung bieten, Mahner und Entdecker sein

Medien haben darauf einen Einfluss, der nicht zu hoch veranschlagt werden kann. Sie sind natürlich mehr als reine Berichterstatter. Sie bieten Orientierung und regen den gesellschaftlichen Diskurs an. Durch umfassende Information, durch das Eintreten für Grundwerte, durch Fairness und Selbstkritik. Und im besten Falle auch durch gutes Bespiel. Sie können Frühwarnsystem sein, Mahner und Entdecker, können durch ihre Arbeit diffusen Ängsten entgegenwirken und gesellschaftliche Bauernfänger bloßstellen, können Stereotypen entgegenwirken und Möglichkeiten aufzeigen.

Das ist ein hoher Anspruch und keine leichte Aufgabe. Aber das haben wir doch gewollt, als jeder von uns irgendwann mal beschlossen hat, den wunderbaren Beruf des Journalisten, der Journalistin zu ergreifen.

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