1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Nur nicht klein beigeben

"Bei 16.000 Dollar habe ich aufgehört, meine Bußgelder zu zählen." Die belarussische Oppositions-Ikone Nina Baginskaja im Gespräch mit der DW über ein vom politischen Protest geprägtes Leben und ihre Hoffnungen.

Protest-Ikone Nina Baginskaja wird in Belarus festgenommen.
Bild: TUT.BY/AFP/ Getty Images

Auch ohne die riesige selbstgenähte Fahne, die sie bei den Protesten im vergangenen Sommer in Minsk mit sich führte, ist Nina Baginskaja sofort erkennbar. Die stahlumrandete Brille, die zierliche Statur und ihr trotziger Gesichtsausdruck veranlassen Passanten immer wieder, ihr freundlich zuzuwinken und sie um Selfies zu bitten, selbst an einem kalten Morgen in der belarussischen Hauptstadt.

Die TV-Bilder über Baginskaja, wie sie sich etwa mit der Bereitschaftspolizei anlegt, um sich ihre rot-weiße Oppositionsfahne nicht abnehmen zu lassen, gingen im August 2020 viral und machten Baginskaja zu einer Heldin für die junge Generation des Landes.

Insgesamt wurden bereits mehr als ein Dutzend ihrer Fahnen konfisziert; jedes Mal fertigte sie eine neue auf ihrer Nähmaschine an. An dem Tag, an dem wir uns zum Gespräch treffen, hat sie eine Fahne im Taschenformat dabei, klein genug, um eingepackt in einer Handtasche versteckt zu werden.

Das Bild zeigt Nina Baginskaja bei einer Demonstration in Minsk. Sie hält die rot-weiß-rote Flagge, das Symbol der Protestbewegung gegen Präsident Alexander Lukaschenko.
Nina Baginskaja bei einer Demonstration in Minsk. Bild: Alexey Maishev/Sputnik/dpa/picture alliance

"Monatelang gab es radioaktiven Niederschlag"

Baginskajas Bereitschaft, die Machthaber des Landes herauszufordern, begann schon vor Jahrzehnten. 1986 arbeitete sie als Geologin an einem staatlichen Forschungsinstitut, als eine Explosion im Atomkraftwerk Tschernobyl zum bis heute schwersten Atomunfall der Welt führte. "Die Behörden versuchten, alles zu vertuschen und bestanden darauf, dass unsere Kinder weitermachen, als wäre nichts passiert. Monatelang gab es radioaktiven Niederschlag", erinnert sich die heute 74-jährige.

Baginskaja begann damit, ihre Kolleginnen und Kollegen über die Auswirkungen der Strahlung aufzuklären und engagierte sich in der Opposition. Schon bald war sie arbeitslos. Doch das System, das sie für ihre Offenheit bestraft hatte, war bald selbst Geschichte. Im Jahr 1991 wurde Belarus unabhängig, die rot-weiße Flagge wurde wiederbelebt, dazu kam Weißrussisch als Amtssprache – statt Russisch. Vieles von dem, wovon Baginskaja und ihre Dissidentenfreunde geträumt hatten, war Wirklichkeit geworden. Aber die Freude sollte nicht von Dauer sein. Nur drei Jahre später ging ein Kolchose-Chef, der aus seiner Nostalgie für die Sowjetzeit keinen Hehl machte, als Sieger aus den Präsidentschaftswahlen hervor: Alexander Lukaschenko.

Aktivistin Nina Baginskaja posiert mit drei weiteren, jüngeren Landsleuten für ein Foto. Sie trägt die Flagge der belarussischen Protestbewegung.
Aktivistin Nina Baginskaja posiert für ein Foto. Bild: Valery Sharifulin/TASS/dpa/picture alliance

Nina Baginskaja ist seit langer Zeit fester Bestandteil der Minsker Demonstrationen. Von zweifelhaften Wahlergebnissen bis zur Solidarität mit der Ukraine im Konflikt mit Russland – Baginskaja hat sich nie gescheut, für ihre Haltung auf die Straße zu gehen. Sie hat den Preis dafür bezahlt – buchstäblich. "Bei 16.000 Dollar habe ich aufgehört, meine Bußgelder zu addieren. Ich mag keine Arithmetik", sagt Baginskaja. Sie erhält nur die Hälfte ihrer ohnehin kargen Rente. Die andere Hälfte wird vom Staat einbehalten, um ihre Geldstrafen für nicht genehmigte Protestaktionen zu begleichen. Bei diesem Tempo würde es noch etwa 50 Jahre dauern, bis sie alles abbezahlt hat, scherzt sie.

"Moderne Menschen sind nicht bereit, Sklaven ihrer Regierung zu sein"

Hatte sie erwartet, dass die Proteste im vergangenen Jahr solche Dimensionen annehmen würden? "Ich war überrascht von der Hartnäckigkeit und dem Durchhaltevermögen der Menschen. Und überrascht, wie viele auf die Straße gingen", sagt Baginskaja. "Moderne Menschen" seien nicht bereit, "Sklaven ihrer Regierung zu sein. Meine Generation wurde durch die Angst vor dem sowjetischen System eingeschüchtert. Diese neue Generation geht bewusst Risiken ein. Sie weiß, was im Ausland passiert." Baginskaja nutzt weder Handy noch Computer. Zu ihrem letzten Geburtstag erhielt sie Hunderte von Glückwunschschreiben von Landsleuten. "Die meisten von ihnen", bemerkt sie süffisant, "wurden von den Behörden geöffnet und gelesen, bevor sie mich erreichten."

Ihre Enkelin gehört zu den Tausenden von Belarussen, die in den vergangenen Monaten aus Angst vor politischen Repressalien das Land verlassen haben. Die Polizei durchsuchte die Wohnung der Großmutter, in der die Enkelin monatelang gelebt hatte. Diese hatte sich bereits in Sicherheit gebracht und war nach Litauen ausgereist. Ein baldiges Wiedersehen mit der Enkelin und ihrem Urenkel scheint in weiter Ferne zu liegen.

"Zeit, dass Lukaschenko in den Ruhestand geht"

"Die Leute meiner Generation haben Mitleid mit Lukaschenko. Wir denken, es ist Zeit für ihn, in den Ruhestand zu gehen", so Baginskaja, die sieben Jahre älter ist als der Präsident. Sie sieht keine Notwendigkeit, ihre politischen Aktivitäten zurückzuschrauben. Auch wenn die Proteste in den kalten Wintermonaten auf der Straße abgeflaut sind, ist sie zuversichtlich, dass sie in diesem Frühjahr wiederaufleben, in Minsk und anderen Regionen des Landes. Und wenn nicht? "Das menschliche Leben ist nicht dazu bestimmt, einfach zu sein", sagt sie. "Das Leben ist eine Herausforderung."

Autorenfoto Nick Connolly

Nicholas Connolly ist Leiter des DW-Büros in Kiew und berichtet seit 2017 als Korrespondent für DW News aus Mittel- und Osteuropa. Er hat von der Krim und aus dem Donbass berichtet und zahlreiche Reportagen von Polen bis Georgien produziert. Im Sommer 2020 begleitete Connolly über Wochen die Proteste in Minsk gegen den umstrittenen Staatschef Alexander Lukaschenko. Connolly studierte Geschichte und Slawistik an der Universität Oxford und arbeitete als freier Journalist in Osteuropa, bevor er 2015 zur DW kam.

Twitter: @niklasconnolly