Mutig Tabus brechen
Rugiatu Turay ist zwölf Jahre alt, als sie kurz nach dem Tod ihrer Mutter mit ihren drei Schwestern und einer Cousine zu einer Tante gebracht wird, angeblich für einen Besuch. Mit verbundenen Augen wurde sie in einen Raum gebracht, erinnert sich Turay. "Jemand setzte sich auf mich, und ich fühlte einen schneidenden Schmerz. Ich blutete stark und hätte fast mein Leben verloren. Eine Woche lang konnte ich nicht laufen."
Weibliche Genitalverstümmelung ist in Sierra Leone Teil der Einführung in sogenannte "geheime Frauengemeinschaften" oder Bondo-Gemeinschaften, die Mädchen auf Ehe und Mutterschaft vorbereiten. Junge Mädchen werden über die Initiationsriten vorab nicht aufgeklärt. Turay flüchtete während des Bürgerkriegs, der von 1991 bis 2002 im westafrikanischen Sierra Leone wütete, ins benachbarte Guinea. Im Flüchtlingslager Kaliya erlebte sie, dass Frauen, die kaum ihre Familie ernähren konnten, an den grausamen Riten festhielten.
Ein Schlüsselerlebnis für Turay: "Wir liefen vor der Gewalt weg, die uns andere Menschen antaten, und jetzt fügen wir uns diese Gewalt selbst zu." 2003 beschloss sie, auf das Thema aufmerksam zu machen. Und gründete die Organisation Amazonian Initiative Movement (AIM).
Gewaltlose Initiationsriten als Alternative
Turay setzt sich für alternative Übergangsriten ein, um die Tradition des Initiationsritus zu respektieren, jedoch ohne die traumatisierende Gewalterfahrung. Dazu geht sie vor allem auf die Soweis zu, jene älteren Frauen, die die Verstümmelung durchführen.
"Ich mache den Frauen klar, dass ich nicht ihre Gemeinschaft in Frage stellen will. Vielmehr geht es mir darum, ihre Werte und das Leben der Frauen zu schützen", so Turay. "Die Kultur ist nicht wichtiger als das Leben der Frauen." Turay geht es um Aufklärung, Schutz und Betreuung von Mädchen, aber auch um die Vermittlung von neuen Perspektiven für diejenigen Frauen, die mit dieser Praxis ihren Lebensunterhalt verdienen.
Die Aktivistin bewertet auch die Arbeit mit Männern als entscheidend im Kampf gegen weibliche Genitalverstümmelung. Unter Männern in Sierra Leone sei das bislang "kein Thema". Dennoch kommt ihnen, so Turay, "eine Schlüsselrolle bei der Veränderung des Narrativs zum Schutz von Mädchen und Frauen zu, da sie die Entscheidungsträger sind." Ein langer Prozess, der auch von Drohungen begleitet wird. Ihrer Aufklärungsarbeit tut das keinen Abbruch.
Ihre Stimme gegen Verstümmelung zu erheben, bedeutet für Turay auch, in die Konfrontation mit eigenen "traurigen und schmerzhaften Erinnerungen" zu gehen. Doch sie habe Mut gefasst, sagt sie: für ihre jüngeren Schwestern und Freundinnen, Mädchen aus armen Familien, Analphabetinnen. So kämpft sie gegen die hohe Kindersterblichkeits- und Morbiditätsrate im Land, setzt sich für die Bildung und Stärkung von Frauen und Mädchen ein.
"Die Kultur ist nicht wichtiger als das Leben der Frauen"
Die Furchtlosigkeit von Turay und ihren Mitstreiterinnen zahlt sich aus: "Die Einstellung zur Tradition hat sich geändert", so die Aktivistin. "Wir haben das Schweigen über ein Tabu-Thema gebrochen. Heilige Schreine werden für den Bau von Schulen entfernt, Praktizierende haben öffentliche Erklärungen abgegeben, ihre Rituale aufzugeben und alternative Übergangsriten zu unterstützen."
Turays jüngere Schwester, die ihre Arbeit unterstützt, hat ein Lied für die Organisation AIM geschrieben, den "Amazonen-Song". Der Bezug auf die Amazonen aus der griechischen Mythologie kommt nicht von ungefähr: "Stark und furchtlos", wie die Amazonen-Kriegerinnen müsse man auch in der Arbeit gegen die Verstümmelung sein, so Turay: "Ich wusste, dass es ein harter Kampf werden würde."