Enge Schranken waren gestern
Ich bin in einer Familie in Mumbai aufgewachsen, in der mein Bruder und ich die gleichen Chancen erfuhren. Diesem Privileg, vor allem im Hinblick auf meine Meinungsfreiheit, war ich mir bis zum 16. Lebensjahr nicht bewusst. Im Zuge der Finanzkrise 2008 konnten sich meine Eltern die Ausbildung von zwei Kindern in der Stadt jedoch nicht mehr leisten. Die bittere Folge: Sie schickten mich auf eine Schule im ländlichen Kernland von Westbengalen.
Mein Leben veränderte sich schlagartig. Ich durfte keine Jeans mehr tragen, mit meiner Meinung musste ich mich zurückhalten. Ich wurde ermahnt, wenn ich zu schnell ging, zu langsam aß oder zu viel redete. Die Schülerinnen durften nicht einmal die Buchmesse in unserer Stadt besuchen. Ich erinnere mich, dass ich den Schulverwalter fragte: "Warum wird den Mädchen etwas so Grundlegendes wie das Lesen verwehrt, wenn Jungs tun können, was sie wollen?" Er reagierte wütend und warf mich aus seinem Büro. Mehr Unterdrückung war kaum denkbar.
Meine Mitschülerinnen hatten den Wunsch zu studieren aufgegeben. Der Gegenwind in der Familie war zu stark geworden, sie hatten kapituliert. Meine Freundin sagte: "Bis ich 18 bin, kann ich nahezu machen, was ich will, aber danach muss ich einen Mann heiraten, den meine Eltern für mich ausgesucht haben." Rückblickend wird mir klar, wie schwierig es war, die gesellschaftlichen Barrieren zu überwinden und ein Leben nach meinen Vorstellungen zu führen.
Indien ist wie eine Münze: Die eine Seite steht für das urbane Indien – Frauen erhalten zwar Chancen, werden aber gesellschaftlich konditioniert, sich bestimmten Idealen anzupassen. Die andere Seite steht für das ländliche Indien – Frauen werden als Last gesehen, ihnen wird eine Reihe von Grundrechten verwehrt.
Am schwierigsten war es, mich selbst zu motivieren, stark zu bleiben, auch wenn Schule und Gesellschaft mich ständig in enge Schranken verwiesen, meinen minderwertigen Status zu akzeptieren. Die grassierende Geschlechterdiskriminierung war auch innerhalb meiner Familie offensichtlich. Plötzlich machte der Hass meines Großvaters auf mich Sinn oder die Neigung meiner Großmutter, meinen Bruder mehr zu lieben als mich. Ich bin damit aufgewachsen und habe nicht daran geglaubt, dass Frauen ihr ganzes Potenzial ausschöpfen können.
Ab 2010 studierte ich in Delhi an einer renommierten Universität. Als Mädchen vom Land spürte ich sofort meine Minderwertigkeit, umgeben von Studentinnen mit Abschlüssen an den Top-Schulen Indiens. An manchen Tagen fürchtete ich, niemals in diese akademischen Kreise vordringen zu können. Heute drängen meine Brüder auf eine gute Ausbildung für ihre Töchter. Für die Frauen in meiner Familie ist es mittlerweile normal geworden zu arbeiten.
Langsam, aber sicher ändert sich die Situation der Frauen in Indien, sie finden immer häufiger Anerkennung und emanzipieren sich. Eine fortschrittliche Gesellschaft braucht starke, selbstbewusste Frauen, die fragwürdigen Stereotypen ein langersehntes Ende bereiten.
Meine Geschichte ist nicht einzigartig. Unzählige Frauen in Indien kämpfen jeden Tag darum, dass ihre Stimme gehört wird. Die Corona-Pandemie hat die soziale Mobilität Tausender gedämpft, die gezwungen waren, die Schule zu verlassen und keine Möglichkeit haben, ihre Ausbildung online zu absolvieren.